Andrar hatte getan, was der Meister von ihm verlangt hatte. 13 riesige Sol’ywen-Wurzeln steckten nun in seiner Satteltasche. Seine Unterarme schmerzten von der Buddelei, seine Hände waren schwarz vor Dreck. Andrar hoffte, dass all das nicht umsonst geschehen war. Dass der Meister bald zu ihm stoßen würde, und sie diesem Ort würden entfliehen können.
Daran, was er tun würde, wenn Sardrowain schon tot war, wagte er gar nicht zu denken. Er griff in die Innentasche seines vom Kampf zerschlissenen Umhangs und holte eine getrocknete Zerdrak-Frucht hervor. Er biss ein großes Stück ab und kaute darauf herum. Zweifel keimten in ihm auf. War dies der richtige Hügel, auf dem er wartete? Aber die Wegbeschreibung des Meisters war eindeutig gewesen. Er war hier richtig. Es war Sardrowain, der so lange nicht kam. Zu lange. Oder war das vielleicht wieder einer seiner hinterhältigen Tricks, mit denen er den Schwertführer prüfen oder demütigen wollte? Verdammt! Als wäre das alles nur ein Spiel.
Ein Rascheln ließ ihn zusammenfahren. Der Schimmel wieherte nervös. Andrar legte die Zerdrak-Frucht auf den Felsen und umklammerte die Zügelschlaufe ein wenig fester - bereit, sich in den Sattel seines Braunen zu schwingen und zu fliehen. Das war nicht der Ort für Heldenmut. Es gab hier nichts, für das es sich zu kämpfen lohnte. Und für den zynischen, alten Meister würde er gewiss nicht sein Leben geben.
Zwei Blaukopf-Vögel stoben aus der Krone eines Baumes, drehten noch eine ungläubige Runde über dem Dickicht und flogen dann rasch davon. Der Schwertführer hörte das Krachen von Ästen. Andrar entspannte sich. Wer auch immer da kam, stellte sich entweder selten blöd an, oder ihm war nicht daran gelegen, unentdeckt zu bleiben.
„Seid Ihr das, Meister?“, rief er und ärgerte sich gleich darauf über diese unüberlegte Frage. Ein Feind würde wohl kaum darauf antworten und Sardrowain offenbarte sie doch nur wieder seine Unerfahrenheit. Als der Meister schließlich aus dem Wald kam, blieben hämische Bemerkungen allerdings aus. Dass er auf diese Gelegenheit diesmal verzichtete, war gewiss allein dem erbärmlichen Zustand geschuldet, in dem er sich befand, vermutete der Schwertmeister. Sardrowain konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Ein großer, silberner Pfeil steckte in seiner linken Schulter. Die Spitze ragte ein gutes Stück aus seinem Körper heraus. Das Blut, mit dem ein großer Teil seines Mantels durchtränkt war, bildete einen scharfen Kontrast zum sonst makellosen Weiß seiner Kleidung. Das Gesicht des Meisters war leichenblass. Er schwitzte und zitterte - offenbar außerstande, einen Schutzzauber zu wirken. Andrar lief ihm entgegen, ergriff seinen heilen Arm und führte Sardrowain die letzten Mannslängen hinauf auf den Hügelkamm. Dort ging der Meister augenblicklich auf die Knie, stützte sich mit der rechten Hand am Boden ab. In dieser grotesken Haltung verharrte er.
„Leider …“, keuchte er. „Leider sind mir ein paar von ihnen entkommen.“
Andrar lachte laut auf. Er konnte nicht anders. Was musste eigentlich geschehen, damit diesem Mistkerl die Hochnäsigkeit verloren ging? Er zog sein Schwert und holte aus.
„Ihr haltet jetzt besser still, Meister!“
Sardrowain sah ihn entsetzt an.
„Wollt Ihr …?“
„ … die Spitze des Pfeils abschlagen“, ergänzte der Schwertführer. „Wie sonst könnte ich ihn herausziehen?“
Ohne weitere Vorwarnung schlug er zu. Sardrowain stöhnte. Dann hob er mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand.
„Schluss damit Schwertführer! Lasst den Rest des Pfeils stecken. Sonst verblute ich, bevor wir die andere Welt erreicht haben.“
Andrar sah ihn erstaunt an.
„Ihr seht nicht so aus, als könnte Ihr in diesem Zustand einen machtvollen Zauber wirken. Und ich kann den Übergang nicht öffnen.“
Sardrowain stöhnte abermals. Dann sah er den Schwertführer eindringlich an.
„Das habe ich auch nicht ernsthaft erwartet. Aber lasst uns bitte weitere Diskussionen über die Qualität der Akademie, an der Ihr gelernt habt, auf später verschieben. Es ist nicht schwer, den Übergang zu öffnen, wenn man weiß, was zu tun ist. Beide Welten sind von Kraftlinien durchdrungen. Überall dort, wo sie sich kreuzen, kann man sie dazu nutzen. Hättet ihr ein wenig Zeit in den grünen Gewölben der Bibliothek von San’tweyna verbracht, dann wüsstet Ihr das.“
„Die grünen Gewölbe sind uns verboten.“
„Weil sich dort die Wahrheit verbirgt, Schwertführer. Aber nun helft mir auf. Es ist den Gorgoils gewiss ein Leichtes, meiner Spur zu folgen. Ich fürchte, sie werden sich eher früher als später an uns rächen wollen. Besser, wir sind weg, wenn sie hier ankommen.“
Polizeihauptmeister Erwin Kolpp hatte in zwei Stunden Dienstschluss. Und er freute sich bereits auf ein kühles Bier, das er sich auf dem Sofa vor dem Fernseher genehmigen wollte, während die 05er der Eintracht ordentlich auf die Mütze gaben. Es war mal wieder Zeit für einen Sieg der Mainzer über Frankfurt und Kolpp hatte das gute Gefühl, dass es heute Abend so weit sein würde. Worüber er sich nicht freute, war, dass er die Wache jetzt nochmal verlassen musste - für nichts und wieder nichts. Das war jetzt schon klar. Kolpp wusste, wann ein Einsatz für die Füße war. Das sagte ihm seine Erfahrung. Aber er wusste auch, dass er den Anruf nicht einfach ignorieren konnte.
„Sie halten mich jetzt wahrscheinlich für völlig verrückt“, hatte der entgeisterte Mann am Telefon gesagt.
„Ach wo. Bleiben Sie einfach, wo sie sind, und warten Sie auf mich. Es ist bald Fastnacht. Das erklärt zurzeit so Einiges.“
„Fastnacht? Haben Sie mir eigentlich richtig zugehört? Das waren keine bunt kostümierten Saufbrüder, die ich da gesehen habe. Da war plötzlich eine dunkelrote Waberwolke, die sich aus dem Nichts gebildet hatte. Und - puff - noch ehe ich mich richtig darüber wundern konnte, sind zwei sehr merkwürdige Gestalten herausgeritten. Mutierte in mittelalterlichen Klamotten. Der eine hat ziemlich heftig geblutet. Mit Fastnacht hat das nichts zu tun. Und, um auch das klar zu sagen: Ich trinke keinen Alkohol! Ich bin Wanderer, und zwar ein kerngesunder.“
Der Mann hatte daraufhin einfach aufgelegt. Aber das machte keinen Unterschied. Formal war es ein Notruf. Und auch, wenn sich Kolpp sicher war, dass hier irgendein harmloser Unsinn im Gange war, musste er nach dem Rechten sehen. Es war seine Pflicht. Am besten gleich, sonst würde er es zum Anpfiff nicht mehr schaffen.
Die Abendsonne gab den Weinbergen ein mildes, orangefarbenes Licht. Die Reben waren noch kahl, wellten sich wie sorgsam ausgelegte Bänder über die sanften Hügel und durch schattige Täler - unterbrochen hier und da durch ein kleines Wäldchen oder einen alten Turm, von dem aus man die Aussicht genießen konnte. Kolpp mochte es, in Rheinhessen auf dem Land Dienst zu tun - fernab vom Trubel der Städte, ihren Banden, Besoffenen, Drogenhändlern und Zuhältern. Hier gab es so etwas nicht. Nur Wanderer, die vermutlich ihre Kräfte überschätzt hatten und am Ende des Tages Dinge sahen, die es gar nicht gab, dachte der Polizeihauptmeister mit einem bitteren Grinsen.
Es war warm und Kolpp öffnete das Fenster einen Spalt breit. Eine angenehme Brise wehte ins Innere seines Einsatzwagens, als er zügig, gerade so im Rahmen des Tempolimits die Landstraße entlangfuhr. Kolpp verzichtete darauf, das Martinshorn einzuschalten. Er hätte es tun können. Immerhin war ihm rein formal ein Schwerverletzter gemeldet worden - und so was wie eine Explosion. Aber daran glaubte er nicht wirklich. Und wegen ein paar maskierter Witzbolde, die einen Wanderer aufgeschreckt hatten, wollte er die Ruhe dieses wunderbaren Tages nicht stören. Etwa zweihundert Meter nach der Ortsausfahrt bog er links ab in einen schmalen Flurweg. Er durchquerte einen kleinen Wald, passierte einen Aussiedlerhof und erreichte schließlich eine geteerte Weinbergsstraße, die kaum breiter war als der Weg, den er kurz davor entlanggerumpelt war. Normalerweise fuhren hier nur Traktoren und Erntewägen. Sonst wurde die Straße gerne von Spaziergängern genutzt. Einer kam ihm gerade entgegen - mit gesenktem Haupt und fahrigem Blick. Der Mann war Ende 50, hatte aber unter seinem albernen Tirolerhut eine gesunde Hautfarbe. Er sah weder besoffen noch verwirrt aus, nur ängstlich.
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