Jetzt saß er im „Verlies“ der Elvan-Stiftung, einem kleinen dunklen, mit Servern und Tastaturen vollgepackten Raum, und starrte auf einen der vier übergroßen Bildschirme.
„Herr Helmsiefer, ich fasse das mal zusammen. Seit Sie Bundestagsabgeordneter sind, machen Sie sich abwechselnd für die Rechte Homosexueller, alleinerziehender Mütter, Drogensüchtiger und psychisch Depressiver stark. Habe ich eine grob benachteiligte Minderheit vergessen?“
„Ja, da war noch ...“, versuchte der leicht dickliche Mann mit den langen, krausen Haaren und dem angegrauten Rauschebart einzuwerfen, aber gegen den ätzenden Charme der Moderatorin hatte er keine Chance.
„Doch für die Mutierten haben Sie nichts übrig? Warum eigentlich nicht?“
„Ich ziehe die Bezeichnung ‚Veränderte‘ vor.“
„Was passt Ihnen an denen nicht?“
„Aber ich habe doch überhaupt nichts gegen diese Menschen. Ich respektiere sie. Ich sehe sie nur nicht als benachteiligte Minderheit an. Sie sind anders als wir, aber ganz sicher nicht schwächer. Sie brauchen meine Hilfe nicht, glauben Sie mir.“
Ein Mann in Hornbrille und dunklem Anzug lachte auf und blickte mit inszenierter Fassungslosigkeit gen Himmel.
„Ich freu mich ja schon fast, dass Sie heute wenigstens nicht mehr davon sprechen, dass die Mutierten unter das Anti-Diskriminierungsgesetz fallen müssten. Ich erinnere mich, dass Sie vor drei Wochen im Bundestag noch etwas ganz anderes gesagt haben.“
„Vielleicht haben Sie mir da nur nicht genau zugehört, Herr Dr. Adler“, protestierte Helmsiefer.
„Wie auch immer. Ich bin dankbar, dass Sie heute einen großen Schritt weiter sind als damals. Immerhin.“
Die quadratische Moderatorin hob theatralisch die Hand, beugte sich zu Dr. Adler vor und fragte eindringlich: „Für Sie und viele in Ihrer Partei nicht weit genug. Man hat den Eindruck, dass Sie die Mutierten oder … ‚Veränderten‘ als Bedrohung begreifen. Sind Sie das?“
„Ach bitte. Bedrohung ist ein bisschen stark. Mag sein, dass das manche so sehen ...“
„Und Sie?“, hakte die Moderatorin selbstgefällig nach.
„Ich bin da sehr für ein bisschen mehr Gelassenheit. Viele tun ja so, als wären die Grundfeste unseres christlichen Abendlandes erschüttert, weil wir hier ein paar hundert Menschen haben, die ein paar Dinge besser können als wir Normalsterbliche. Deshalb muss nicht gleich der Notstand ausgerufen werden. Ich sage nur, dass wir sorgfältig abwägen müssen, ob für diese Mutierten - oder wie auch immer wir sie nennen wollen - die gleichen rechtlichen Bedingungen gegeben sind wie für die normalen Bürger.“
„Wie bitte meinen Sie das denn, Herr Dr. Adler? Demokratie für alle, nur nicht für die, die anders sind?“, empörte sich Helmsiefer. Sein Bart vibrierte.
„Der Gleichheitsgrundsatz ist in der Tat eine eherne Säule unserer Demokratie, geschätzter Kollege. Nur haben wir es hier mit Leuten zu tun, die gleicher sind als andere.“
Er hob die Hände und kicherte als Einziger über seinen müden Witz.
„Was ich damit sagen will: Unser Grundgesetz ist für Menschen wie du und ich geschrieben, nicht für Leute, die uns in fast allem mühelos ausstechen können und daher deutlich bevorteilt sind. Bei der Tour de France sind schließlich auch keine Autos zugelassen.“
Vor Maus‘ geistiges Auge drängten sich Bilder einer sehr denkwürdigen Radtour, die Ben, Viktoria und er vor wenigen Wochen im Chiemgau gemacht hatten. Scheiße! Wie konnte er das auch vergessen? Zwei Killer auf Motorrädern hatten sie angegriffen und Viktoria fast getötet. Ben hatte den Kerlen die Hammelbeine langgezogen und einen von ihnen sogar in die ewigen Jagdgründe befördert - als wäre das nichts gewesen. Und danach war er auf dem Fahrrad fast so schnell unterwegs gewesen wie er und Viktoria auf dem erbeuteten Motorrad. Aus Ben, dem nörgelnden Miesepeter, war urplötzlich eine Art Superfreak geworden. Ein Albe, wie Maus inzwischen wusste. Ben gehörte zu den Nachfahren dreier Keltenkrieger. Geysbin, der Ober-Albe der Bergfestung Galandwyn hatte ihnen vor zwei Jahrtausenden einen Zauber eingepflanzt, der jetzt dazu führte, dass sich Menschen einfach so in spitzohrige Kraftprotze verwandelten. Gut gemeint von dem alten Geysbin, dem Großmeister des Lichts, der damit nur sein Volk retten wollte. Hat allerdings nicht ganz so funktioniert wie geplant.
Diese abgefahrene Geschichte beschäftigte Maus‘ ebenso analytisches wie rollenspielerprobtes Nerd-Gehirn nachhaltig. Bisher hatte er Realität und Fantasie immer ganz gerne auseinandergehalten. In dem Fall lagen die Dinge etwas heftiger. Die Geschichte war einfach hammermäßig schräg. Zu schräg, um sie Leuten wie der arroganten Moderatorin oder den nervigen Politikern der Talkrunde zu verklickern. Was würden die wohl daraus machen? Vermutlich zur Generalmobilmachung aufrufen, dachte Maus und gruselte sich.
„‘Leute, die uns alle mühelos ausstechen können‘ ist eine interessante Umschreibung für ...“ Die Moderatorin machte eine künstliche Pause. „Ja, für was eigentlich. Herr Prof. Senker? Sie haben am Franziskus-Spital in Innsbruck einen der ersten bekannten Fälle behandelt. Den eines Automechanikers, der sich innerhalb weniger Tage verwandelt hat. Womit haben wir es hier eigentlich zu tun. Mit einem Virus?“
Ein drahtiger Mann in den Fünfzigern schüttelte energisch seine volle grau-schwarze Tolle, die ihm daraufhin in die Stirn fiel. Er strich sie beiseite, bevor er antwortete.
„Wir sind anfangs davon ausgegangen, dass ein bisher unbekanntes Virus bei Menschen mit besonderen genetischen Veranlagungen die Verwandlung ausgelöst haben könnte. Aber dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Richtig ist, dass alle bisher untersuchten Mutierten - und ich meine das Wort nicht abwertend - in ihrem genetischen Code Abweichungen aufweisen, die uns Rätsel aufgeben. Wir wissen darüber hinaus aber einfach noch nicht, was genau da passiert ist. Ansteckend, um ein weiteres Gerücht auszuräumen, ist das aber nicht. Dagegen spricht auch, dass über die etwa 500 bekannten Fälle hinaus in den vergangenen Wochen keine neuen dazugekommen sind. Es scheint ein singuläres Ereignis gewesen zu sein.“
„Ein singuläres Ereignis, Herr Professor? Was erzählen Sie denn da? Warum sagen Sie denn nicht einfach, dass die Wissenschaft hier versagt hat, versagen musste. Denn, was wir gerade erleben, ist mit konventionellen Maßstäben nun mal nicht zu messen.“
Und damit hatte sich auch der vierte und letzte Gast der Talkrunde zu Wort gemeldet, ein Kerl mit wachen Augen und Halbglatze. Er hatte dem bisherigen Verlauf der Diskussion mit sichtbarer Ungeduld verfolgt. Jetzt, da sich die quadratische Moderatorin endlich ihm zuwandte, war der Zeitpunkt gekommen, da auch er seine wilden Thesen absondern konnte.
„Frank Bartold, in Ihrem Buch ‚Zeit der Mutanten‘ sagen Sie eine Welt voraus, in der wir normale Menschen nur noch ein Leben als Dienende fristen werden. In der die Mutierten quasi schleichend die Macht an sich reißen. Ist das wirklich Ihr Ernst?“
Was für eine Ratte! Maus kannte den Kerl. Frank Bartold, im Web auch als ‚newsman68‘ bekannt, war ein Journalist, der für eine gute Geschichte sogar seiner Großmutter den linken Arm auskugeln würde. Wobei er mit ‚gute Geschichte‘ eine meinte, die er gut verkaufen konnte. Er war ein Opportunist mit einem verdammt flexiblen Verhältnis zur Moral. Maus erinnerte sich an das Interview, das er mit Viktoria und Maus gemacht hatte - als die Welt noch halbwegs normal und Ben noch ein waschechter Mensch war. Sie gehörten zur Web-Aktivistengruppe Liix und traten Betrügern und Lügnern in den Arsch. Sie entlarvten sie und stellten sie im Internet an den Pranger. Frank fand das cool, brachte die Geschichte und verhalf Liix zu einem gewissen Ruhm. Aber bevor sie richtig durchstarten konnten, bekam Ben plötzlich spitze Ohren und sie hatten andere Sorgen. Mit Frank war die Zusammenarbeit schnell vorbei. Jetzt hatte sich der Schleimbeutel offenbar eine andere Einnahmequelle gesucht und ein Buch geschrieben - ausgerechnet über die Verwandelten.
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