Timo Hemander konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Das Leben hatte ihn verarscht. An dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Und jetzt traf sie ihn wie ein heftiger dumpfer Schlag in die Magengrube. Abgründiger Frust fraß sich wie ein Schwelbrand durch seine Eingeweide und machte auch vor seinem Verstand nicht halt. Nicht einmal seine neuen spitzen Ohren verschonte er. Timo hatte das Gefühl, dass sie glühten. Nach all dem, was ihm widerfahren war, hätte ihn selbst das nicht mehr überrascht.
Vor Ärger drückte er das Gaspedal noch ein wenig tiefer. Der Motor seines aufgetunten 5er-BMWs heulte wehleidig auf.
„Beschwer Du Dich nicht auch noch!“, motzte er unsinnigerweise sein Auto an. „Wäre ich nicht gewesen, dann würdest Du heute auf dem Schrottplatz vor dich hin rosten.“
Zwei Jahre lang hatte er jede Minute seiner Freizeit in die Kiste gesteckt. Am Ende hatte Timo aus einer ausgedienten Rentner-Limousine eine rassige Rennsemmel gezaubert. Aus Mist war Gold geworden. Bei seinem Auto hatten das alle toll gefunden. Bei ihm selbst nicht.
Denn irgendjemand oder irgendetwas hatte auch Timo aufgemotzt. Fünf Tage lang war ihm im vergangenen Herbst hundeelend gewesen. Dann war er eines Morgens aufgewacht und hatte sich großartig gefühlt - mit strahlend hellen Augen, langen Ohren und Kräften wie der unglaubliche Hulk. Die Arbeit in der Werkstatt war von da an ein Kinderspiel für ihn, Überstunden oder lange Partys kein Problem mehr, weil er kaum mehr Schlaf brauchte. Sein Chef, seine Kumpels, Katrin - alle waren begeistert. Zum ersten Mal in seinem Leben war er etwas Besonderes. Sogar das Fernsehen hatte über seine wundersame Verwandlung berichtet. Aber dann schlichen sich Neid und Skepsis in die Hirne. Und sein Leben fuhr in die Grütze. Nachbarn sahen ihn an, als könnte sie allein Timos Blick mit dem heftigsten Hautausschlag aller Zeiten infizieren. Seine Leute in der Werkstatt beschwerten sich, er solle ihnen wenigstens ein bisschen Arbeit übriglassen. Und Katrin maulte, sie könne nicht mehr mit ihm mithalten. Als ihn der Vermieter aus der Wohnung warf, lachte er das noch weg. Auch für Katrin - dachte er jedenfalls - würde er schnell einen angemessenen Ersatz finden. Aber als ihm dann noch sein Chef kündigte, stürzte eine Welt für ihn ein. Timo sei schlecht für das Arbeitsklima, meinte er. Sein Ex-Kollege Andi fand noch deutlichere Worte. Timo sei ein Freak, der in die Hölle zurückkehren solle, die ihn ausgespuckt habe.
Das war zu viel. Kein Mensch konnte so viel Dreck schlucken, dachte Timo. Aber er war ja auch kein Mensch mehr. Er war ... ein Freak. Ein frustrierter Freak. Und als solcher konnte er es sich erlauben, noch ein bisschen mehr Gas zu geben. Die 225er-Breitreifen quietschten, als sich sein BMW in die Kurve legte. Der Wagen und auch Timo fühlten sich wohl auf den engen Gebirgsstraßen hier in Tirol. Er hatte Innsbruck erst vor zehn Minuten verlassen und nun war er schon fast in Sellrain. Seine Sinne waren jetzt, nach der Verwandlung, schärfer. Wahrscheinlich hätte er auch ohne Abblendlicht in der Dunkelheit noch prima sehen können.
In die nächste Rechts-Kurve ging er mit viel Schwung und nahm mit einem Wimpernzucken zur Kenntnis, dass er dabei auf die Gegenfahrbahn driftete. Was soll’s? Wäre ihm ein anderer entgegengekommen, hätte er es wahrscheinlich rechtzeitig gehört oder gesehen. Außerdem waren seine Reflexe besser als die jedes Formel-1-Piloten. Verdammt. Er sollte Rennfahrer werden. Der Star in der neu gegründeten Formel Freak. Timo lachte bei dem Gedanken laut auf und warf den Kopf in den Nacken. Ein Fehler, stellte er fest, als er wieder nach vorne sah.
Vier grelle Fernlichter rasten auf ihn zu. Schneller als das bei einem Menschen möglich gewesen wäre, wurde ihm bewusst, dass da zwei Autos nebeneinander fuhren. Aber auch dieses Wissen half ihm nicht wirklich. Mit Wucht drückte er das Bremspedal gegen das Bodenblech und riss das Lenkrad herum. Zu viel Speed, schoss es ihm durch den Kopf, während der BMW schleuderte, sich zweimal überschlug und dann die Böschung in Richtung Bach hinabstürzte.
Von diesem Moment an verlangsamten sich die Dinge um ein Vielfaches. Timo hörte jeden Stein, der gegen die Karosserie schlug, er sah die unzähligen Splitter, in die sich die Scheiben verwandelten, und er spürte, wie sich der Airbag aufblähte, gegen seine Brust drückte und dann wieder in sich zusammenfiel. Der Wagen riss eine Tanne mit sich. Ein spitzer Ast bohrte sich in das Polster der Kopfstütze. Hätte Timo ihn nicht kommen sehen und wäre ausgewichen, hätte ihn der Ast aufgespießt. Mit dem Dach nach unten platschte der Wagen in die Melach. Das kalte Wasser des Wildbachs strömte ins Innere, drang in Timos Mund und Nasenlöcher, nahm ihm die Luft zum Atmen. Wie ein Schwein im Schlachthaus hing er mit dem Kopf nach unten im gestrafften Sicherheitsgurt und schloss mit seinem erbärmlichen Leben ab. Aber dann riss die starke Strömung den BMW herum und stellte ihn auf das, was von den Reifen noch übrig geblieben war. Noch ein paar Meter trug das Wasser den Wagen weiter, dann verkeilte er sich zwischen den Felsen, die aus der Melach herausragten.
Timo konnte wieder atmen. Der Bach war zum Glück nicht tief. Gurgelnd umspülte das eisige Wasser seine Füße und Waden. Die Kälte half ihm dabei, seine Sinne zu ordnen. Er sah an sich herab. Da war kein Blut. Das war schon mal gut so. Vorsichtig löste er die Sportsicherheitsgurte, die er erst vor wenigen Wochen nachgerüstet hatte. Arme und Beine funktionierten noch und abgesehen von einem leichten Ziehen im Nacken fühlte er sich wohl. Wie unglaublich! Als Mensch hätte jetzt der Rettungshubschrauber kommen müssen, dachte er. Er fühlte Erleichterung. Bald aber wurde sie von einer Welle aus Wut aus seinem Schädel gespült. Was, verdammt nochmal, haben die Verrückten da oben auf der Straße bloß veranstaltet? Ein Wettrennen? Mit eingeschaltetem Fernlicht? Vergeblich versuchte er, die Fahrertür zu öffnen. Sie klemmte. Mit einem heftigen Tritt katapultierte er sie in die Melach, die sie sofort mit sich riss. Wie ein Floß, das außer Kontrolle geraten war, drehte sich die Tür ein paar Mal wild und verschwand dann in der Dunkelheit. Timo stieg aus, hielt sich am lädierten Rahmen fest und fand sicheren Tritt auf einem der größeren Steine.
Scheiße! Der BMW war gründlich hinüber. Da war nichts mehr zu retten. Timo hätte heulen können. Wütend trat er gegen den Blechklumpen, der bis vor Kurzem noch die Front eines großartigen Wagens gewesen war. Was hatte die Welt denn noch an Gemeinheiten für ihn parat, fragte er sich.
Jemand würde dafür büßen müssen! Timo sah hinüber zum Ufer. Die Lichtkegel von Taschenlampen hüpften in der Düsternis zwischen den dichten Bäumen. Die Verrückten hatten also wenigstens so viel Anstand, nach ihm zu sehen.
„Kommt nur!“, hörte er sich murmeln. Dann machte er sich auf in Richtung Ufer. Soweit es ging, sprang er von Stein zu Stein. Das letzte Stück musste er waten und hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten. Und ausgerechnet auf dem allerletzten Meter vertiefte sich die Melach noch einmal, sodass er fast bis zur Hüfte im Wasser stand. Mit aller Kraft zerrte der Bach an ihm, drohte, ihn mit sich zu reißen. Aber dann griff eine helfende Hand nach ihm und zog ihn mit einem kräftigen Ruck ans Ufer.
Timo blickte in ein unrasiertes Gesicht, das er gut kannte. „Was zum Geier machst du denn hier?“, fragte er. Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen drückte ihm der Mann einen Elektroschocker auf die Brust. Timo stöhnte auf. Alle Muskeln verkrampften sich. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, wurde es dunkel.
„Timo Hemander zu finden, wird einfach“, hatte Ben von Hartzberg vor einem Tag auf Madeira seinem Kumpel Maus zum Abschied zugerufen. „Der Typ liebt die Öffentlichkeit und scheint auch sonst ein recht offenherziger Mutierter zu sein.“
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