Die drei Männer blieben stehen. Der mittlere schob die Kapuze zurück und offenbarte graue, wellige Haare, durch die zwei spitze Ohren stachen. Er verbeugte sich und sprach etwas, das Andrar nicht verstand.
„Das sind Elvan jal’Iniai!“, entfuhr es dem Schwertführer. Sardrowain nickte.
„Bei den Adro’wiai! Mögen sie lange leben und herrschen! Ich dachte, wir wären hier draußen alleine.“
„Seid still, Andrar! Redet nicht so töricht! Natürlich sind wir alleine. Diese Elvan jal’Iniai sind unsere Feinde, seit der Lorrwain, der große Krieg, unser Volk vor so langer Zeit entzweit hat. Sie sträubten sich gegen die Macht der Neuen Herrscher, die wir heute Adro’wiai nennen. Sie wurden aus Lysin’Gwendain vertrieben, flohen in die andere Welt, verschanzten sich in einer weißen Festung in den Bergen. Und dann kehrten sie zurück. Seit mehr als tausend Jahren schon leben sie wieder in Lysin’Gwendain. Sie haben ihren Unterschlupf in den steilen Hängen der Kant’ras-Berge - weit weg von hier und noch weiter weg von den Mauern, mit denen wir unsere Welt in eine sichere und eine tödliche Hälfte unterteilt haben.“
Der Schwertführer war verwirrt. Er hatte niemals davon gehört, dass es außer in der Stadt und in den Landen von San’tweyna weitere Elvan jal’Iniai geben sollte. Nicht in Lysin’Gwendain und auch nicht in der anderen Welt. Und doch spürte Andrar, dass der alte Meister die Wahrheit sprach. Verdammt! Er sah sie schließlich vor sich: drei Männer in fremdartiger Kleidung, die sich mit Gorgoils trafen.
„Was geschieht dort, Meister? Sagtet Ihr nicht, dass die Gorgoils geschaffen wurden, um die Abtrünnigen zu töten?“
Sardrowain nickte.
„Nun, dann hat der Plan offensichtlich nicht funktioniert. Diese Abtrünnigen leben. Und mehr noch. Sie scheinen sich mit den Gorgoils bestens zu verstehen.“
„Genau das ist es, was mich beunruhigt, Schwertführer. Wenn sich alte Widersacher zusammentun. Dann ist das nicht gut.“
Andrar verstand. „Es ist vor allem dann nicht gut, wenn beide einen gemeinsamen Feind haben.“
Der Meister bewegte sich. Sah er ihn an? Schenkte er ihm einen anerkennenden Blick?
„So ist es, Schwertführer. Die Dinge sind in Bewegung geraten. Etwas wird geschehen. Das ist auch den Elvan jal’Iniai in den Kant’ras-Bergen nicht entgangen. Sie handeln. Und genau das sollten auch wir tun. Ihr müsst nun gehen, Schwertführer! Und etwas für mich finden.“
Andrar rannte, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Zweige peitschten gegen seine Waden, seine Oberarme und Schultern. Er übersprang Wurzeln, gefallene Stämme, einen tiefen Graben. Die klare Luft stach ihm mit eisigen Stacheln ins Gesicht, jedes Mal, wenn es ihr gelang, den Zauber zu durchdringen, der Andrar vor der Kälte schützen sollte. Der Schwertführer war so schnell, wie er es dank seiner trainierten Muskeln und der Kraft des Lichts nur sein konnte. Und doch wagte er es nicht, zurückzuschauen. Der eindringliche Satz, mit dem Sardrowain seine Befehle an ihn beendet hatte, hallte in seinem Gedächtnis nach, weigerte sich standhaft, sein Bewusstsein zu verlassen.
„Und, Andrar. Lasst Euch nicht zu viel Zeit. Die Gorgoils werden uns jagen - vor allem, wenn sie herausgefunden haben, was wir mit ihren Familien gemacht haben.“
„Und was werdet Ihr tun?“, hatte er gefragt.
„Dieses Treffen hier beenden. Es hätte niemals stattfinden dürfen.“
Andrar war sich sicher, dass der Meister bei diesen Worten gelächelt hatte, auch wenn er sein Gesicht natürlich nicht hatte sehen können.
Dieser Zauber. Er faszinierte ihn. Und er beneidete Sardrowain darum, ihn wirken zu können. Er war stark. Und doch war er schnell wieder verblasst, nachdem sich Andrar nur wenige Mannslängen vom Meister entfernt hatte. Der Schwertführer war wieder sichtbar geworden. Und er fühlte sich nun noch verwundbarer als zuvor. Deshalb rannte Andrar. Er rannte auch dann noch, als ihm längst die Waden schmerzten und die Lunge brannte. Er würde erst dann anhalten, wenn er an einem Ort war, so wie ihn der Meister beschrieben hatte.
Sardrowain wusste, was Angst war. Er hatte sie erlebt. Hier in diesen Wäldern hatte sie seinen Verstand einst gelähmt, als er unter dem Staub seiner Kameraden lag und wider jede Vernunft darauf hoffte, sein erbärmliches Leben noch retten zu können. Er erinnerte sich an den Gestank der Schlacht, an das Zittern, das er nicht kontrollieren konnte, an das Schnaufen der Gorgoils, die nach Überlebenden suchten, um ihnen die Schädel einzuschlagen. Nichts davon konnte er vergessen. Er hatte Jahrzehnte gebraucht, um jene dunklen Stunden aus den Träumen fiebriger Nächte zu verbannen. Und um jene eine Lehre aus ihnen zu ziehen: Dass die Angst ein machtvoller Freund war. Inzwischen begrüßte er sie, umarmte sie und er benutzte sie.
Und genau das war es, was er tat: Er verbreitete Angst. Jetzt, in diesem Moment. Die Gorgoils spürten die unsichtbare Gefahr. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass da irgendetwas war. Ihr Fell zitterte, Hufe und Tatzen schabten über den gefrorenen Boden, die Nüstern blähten sich auf, saugten Luft ein, die Kraft versprach für einen schnellen, rettenden Hieb. Aber sie konnten Sardrowain nicht sehen. Sie ahnten nicht, dass der Meister nur noch wenige Mannslängen von ihnen entfernt stand und die Griffe seiner beiden Armbrüste fest umschlossen hielt - bereit, so viele von ihnen zu töten wie möglich.
Aber auch Sardrowain machte sich nichts vor. Er mochte unsichtbar sein, aber er war nicht unverwundbar. Vor allem der weißhaarige Elvan jal’Iniai beunruhigte ihn. Zweimal schon war der Blick des Mannes dort hängen geblieben, wo er stand. Ahnte er etwas? Hatte er ihn gesehen? Sardrowain spürte seine Macht. Es war eine sehr alte Macht. Der Meister würde ihn mit einem der ersten beiden Bolzen töten müssen.
Ruhig und tief redete der Weißhaarige nun auf die Gorgoils ein. Seine Laute waren bisweilen hart und kehlig, und doch verlieh er ihnen eine Sanftheit, die keinen Zweifel an seinen guten Absichten ließ. Der Meister verstand nicht, was er sagte. Aber er spürte, dass die Worte wirkten. Die Gorgoils sogen sie auf, hießen sie willkommen. Sardrowain konnte das nicht zulassen. An ihm war es, dieses unerhörte Treffen zu beenden. Er wagte noch zwei weitere vorsichtige Schritte auf die Gorgoil-Gruppe zu. Dann schoss er.
Der erste Bolzen fuhr in die wulstige Büffelstirn eines Gorgoils. Noch bevor sein schwerer Körper auf den Boden schlagen konnte, war er zu Staub zerfallen. Und auch der zweite Bolzen jagte seinem Ziel entgegen. Er flog gut, würde dem Weißhaarigen unweigerlich den Tod bringen, dachte Sardrowain voller Befriedigung. Doch was stattdessen geschah, ließ ihn für einen kurzen Augenblick erstarren. Mit einer weichen, fast beiläufigen Bewegung wischte der Elvan jal’Iniai den Bolzen beiseite, als wäre er nichts weiter als ein lästiges Insekt. Das Geschoss fuhr direkt neben seinen Füßen in einen kleinen Haufen Schnee und brachte ihn zum Zerbersten.
Sardrowain blieb keine Zeit zum Denken. Sein dritter Bolzen tötete einen hirschartigen Gorgoil, der panisch seine gestachelte Keule kreisen ließ und dem Meister damit gefährlich nahegekommen war. Und mit dem vierten traf er einem der Bogenschützen in die Brust. Auch er hatte mit erstaunlicher Geschwindigkeit reagiert, den Bogen von der Schulter genommen und einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Doch bevor er schießen konnte, zerfiel er zu silbernem Staub. Er war nicht der erste seines eigenen Volkes, den Sardrowain tötete.
Der Meister nutzte die Verwirrung, die sich unter den überlebenden Gorgoils breitmachte, und brachte sich mit einem Satz in ihre Mitte, wo er für den Moment vor den Blicken der beiden Elvan jal’Iniai geschützt war. Er zog sein Kurzschwert und hieb einem Gorgoil den Schwertarm ab, einem anderen rammte er die Waffe in den Hals. Brüllend schlugen die übrigen um sich, trafen ins Leere, ihre Augen suchten vor Angst geweitet nach irgendetwas, das sie bekämpfen konnten. Aber sie sahen nicht viel mehr als einen Schemen, der sich mit atemberaubender Geschwindigkeit bewegte und im nächsten Moment einem weiteren Gorgoil-Krieger die Kehle aufschlitzte.
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