Andrar zuckte wieder. Sein Mund öffnete sich leicht und gab den Blick auf zwei strahlend weiße Zahnreihen frei.
Sardrowain deutete eine demütige Verbeugung an. „Verzeiht. Mögen sie lange leben und so weiter.“
Der Schwertführer schnaufte und beherrschte seinen Zorn offenbar nur mit großer Mühe. Sardrowain fuhr fort: „Alles, was wir hier in dieser Ödnis finden, Schwertführer, das sind Gorgoils, jede Menge wilder, blutdürstiger Gorgoils. Jeder Einzelne von ihnen hätte gerne unseren Arsch zum Abendbrot. Und der Einzige, der verhindern kann, dass sie ihn bekommen, bin ich. Wisst ihr, wer ich bin?“
Andrar stutzte. Die Frage schien ihn zu verwirren. Es gab wohl keine passende Antwort, die er auf der Akademie hatte auswendig lernen können. Dennoch versuchte er es.
„Sicher, Ihr seid Sardrowain, ein großer Krieger, seit vielen Jahrhunderten ein Meister des Lichts und ein Vertrauter der drei Adro’wiai. Mögen sie lange leben und herrschen!“
Sardrowain lächelte mit einer gewissen Genugtuung. Das war fast wortgleich die Antwort, mit der er gerechnet hatte.
„Ihr irrt Euch, Andrar! Ich bin kein großer Krieger. Im Gegenteil. Ich bin, ebenso wie die Mauern von San’tweyna, der Beweis dafür, wie unvollkommen und schwach die Adro’wiai in Wahrheit sind.“
Der Schwertführer stoppte sein Pferd und blickte den Meister mit unverhohlener Empörung an. Sardrowain bemerkte, wie sich Andrars Hand unter seinem samtenen Mantel dem Schwertknauf näherte, dann aber wieder rasch entfernte. Wie bedauerlich, dachte der Meister. Wie gerne hätte er dieses jämmerliche Leben mit einer Explosion aus Blut und Hirnmasse beendet.
„Erklärt mir das!“, brachte der Schwertführer hervor.
Sardrowain lachte.
„Ich gehöre zu denen, die keiner schätzt und jeder verachtet. Zu jenen, die dennoch gebraucht werden, um den Dreck beiseitezuschaffen, der einem glanzvollen Trugbild zwangsläufig im Wege stehen muss. Für Ruhm und Ehre habe ich keine Verwendung, ebenso wenig kenne ich Mitgefühl. Es macht mir sogar Freude zu töten, Schwertführer. Wusstet Ihr das nicht? Meine Taten sind nicht der Stoff für Heldenepen und sicher nicht für die Lehrbücher der Akademie. Und doch sind es Männer und Frauen wie ich, die dafür sorgen, dass sich in der silbernen Stadt San’tweyna alle wohl und behütet fühlen können. Dass sie sich weiter einreden können, sie seien die Herrscher der Welt.“
Andrars Miene war versteinert. Ratlos fuhr er sich durch die langen Haare. Sardrowain sah, dass die Spitzen seiner Ohren zitterten. Ob vor Zorn oder aus Angst, wusste er nicht. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.
„Also, Schwertführer Andrar. Was wollen wir nun tun? Auf diesem Pfad ist vor weniger als einer Stunde eine Rotte Gorgoils vorbeigezogen. Wollen wir nun herausfinden, was sie so weit im Westen verloren haben und sie töten, wenn wir können? Oder sollen wir unsere Erkenntnis beiseiteschieben und hoffen, dass uns bei unserer Rückkehr niemand zur Verantwortung zieht, etwa für einen Überfall, den diese Kreaturen vielleicht im Sinn haben?“
Andrars Pferd schnaubte, die Hufe knirschten im Schnee, als es für einen Moment zurücksetzte. Das Tier spürte die Zweifel und die Furcht seines Reiters. Sardrowain blieben solche Dinge nicht verborgen. Sie halfen ihm beizeiten, Falschheit und Verschlagenheit zu entlarven. In Andrars Kopf allerdings konnte er auch ohne sie mühelos lesen. Der junge Schwertführer war kein Gegner für ihn. Und das, was er las, war grenzenlose Verwirrung.
„Meister, es ist nur, dass …“ Er hielt inne.
„Nun, Schwertführer?“
„Ihr habt recht, Meister. Wir sollten die Gelegenheit, Gorgoils zu töten, nicht verstreichen lassen. Es ist gewiss im Sinne der drei Adro’wiai. Mögen sie lange leben und herrschen!“
Sardrowain nickte und drückte seinem Schimmel die Fersen in die Flanken. Der Wald war noch fern. Als dunkles Band spannte er sich entlang des Horizonts im scharfen Kontrast zum Weiß der großen Ebene. Dorthin führten die beiden Spuren. Die der Gorgoils und die der anderen, von denen Sardrowain dem Schwertführer nichts gesagt hatte.
Die Sonne stand hoch, als sie endlich im Schutz der hohen Bäume reiten konnten. Sardrowain war schon einmal hier gewesen. In jener Zeit, in der die Gorgoils dem Heer Lysin’Gwendains eine erste, schändliche Niederlage beigebracht hatten. Jene Zeit, in der Sardrowain den Unterschied zwischen Demut und Hochmut gelernt hatte. Bis dahin hatte sein Volk die Gorgoils als hirnlose, grobe Kreaturen angesehen. Jahrhunderte davor waren sie aus der anderen Welt zurückgekehrt. Seitdem hatten sie gelernt, hatten sich entwickelt. Die Starken und Klugen unter ihnen hatten sich durchgesetzt. Und sie hatten sich vermehrt. Die Gorgoils - eigentlich erschaffen, um zu gehorchen, zu töten und zu sterben - hatten ihren Platz in Lysin‘Gwendain erobert. Sie hatten sich von ihren Herren befreit, waren ihren eigenen Weg gegangen. Und sie waren auf Rache aus. Als das aber die Heerführer der Elvan jal’Iniai erkannten, war es zu spät. Hier, in diesem Wald wurden die Soldaten der Neuen Herrscher, der Adro’wiai, wie sie sich heute nannten, niedergemacht. Jede Minute, jede Stunde dieses grauenhaften Gemetzels hatte sich in Sardrowains Gedächtnis eingebrannt, hatte die 700 Jahre, die seitdem verstrichen waren, überdauert.
Noch immer sah er die Bilder vor sich. Von Elvan jal’Iniai, deren Gesichter von Angst verzerrt waren, voller Fassungslosigkeit darüber, auf einen überlegenen Gegner gestoßen zu sein.
Sie wurden durch den Wald gehetzt, aus dem Dickicht beschossen. In kleinen Gruppen griffen die Gorgoils immer wieder an, töteten, verstümmelten und zogen sich wieder zurück. Nach drei Tagen wurden die überlebenden Truppen in ein enges Tal gedrängt, wo sie in der Falle saßen. Das Abschlachten dauerte bis in die tiefe Nacht hinein. Dann waren mehr als 5000 Elvan jal’Iniai tot. Sardrowain, der damals als einfacher Fußsoldat diente, verbarg sich unter den Kleidern der Vergangenen, in einem Haufen silbernen Staubs. Er wagte kaum, zu atmen. Stunde für Stunde lauschte er dem Brüllen der Gorgoils, ihren dumpfen Schritten, dem Geräusch von Speeren, die in die Staubhaufen fuhren, um sicherzugehen, dass keiner seiner Kameraden mehr lebte. Nur er allein blieb verschont, wie durch ein Wunder. Dennoch starb Sardrowain in gewisser Weise in jenen Stunden im Staub. Und als alles vorbei war, erhob er sich als ein anderer wieder aus dem Dreck.
So lange war das her. Und doch glaubte Sardrowain den Pfad, auf dem das Heer damals marschiert war, wiederzuerkennen. Die Bäume seitlich davon reichten über hundert Mannslängen weit in den Himmel. Ihre hellen Stämme waren schlank und stark, ihre Kronen ebenmäßig. Sonnenlicht drang flackernd durch das dichte, blätterlose Geäst und zeichnete bizarre Formen in den Schnee. Und hier und da erkannte der Meister das zarte Violett von Sol’ywen-Bäumen. Beinah unscheinbar verbargen sie sich, so gut es ging, zwischen massiven Stämmen und dichten Sträuchern. Aber jetzt im Winter gab es nur wenig, das ihre immerwährenden, feingliedrigen Blätter vor Blicken schützen konnte. Hier waren so viele von ihnen. Weit mehr noch als in den Gärten der silbernen Stadt, wo sie kostbar geworden waren. Hier trachtete ihnen niemand nach den Wurzeln, wollte ihnen niemand die Kraft des Lichts rauben. Fast niemand. Sardrowain würde schon bald seine Vorräte aufbessern. In der anderen Welt, so stand es in den Schriften, gab es keine Sol’ywen-Bäume. Mit den wenigen Wurzelkugeln, die er in seiner Satteltasche mit sich führte, würde er nicht weit kommen.
„Diese Gorgoils sind dumm wie Tiere, Meister. Sie geben sich keine Mühe, ihre Spuren zu verwischen. Wie erbärmlich diese Kreaturen doch sind.“
Sardrowain seufzte.
„Erbärmlich sind Eure Worte, Schwertführer. Und Eure Arroganz. Ich frage mich, was man Euch auf der Akademie über diese Kreaturen lehrt. Dass sie einfach zu besiegen sind? Dass sie sich mit uns, den Elvan jal’Iniai, nicht messen können? Nun, das sehen sie vermutlich anders.“
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