„Angeln Sie?“, fragte sie.
Mit einer ausholenden Armbewegung wies er auf das Meer.
„Es gibt nicht sehr viel, was man hier machen kann in seiner Freizeit. Fische haben wir allerdings reichlich. Fische, Felsen und Nebel.“
„Das würde ich gerne mal ausprobieren“, erklärte sie eifrig. „Hier kann man doch sicher irgendwo Angelsachen kaufen.“
Er nickte bedächtig. „Das können Sie. Aber ich würde Ihnen wünschen, dass Sie nicht lange genug bleiben, um Spaß daran zu finden.“
Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Wieso wollen Sie mich eigentlich so schnell wieder loswerden? Das ist es doch, worauf das Ganze hinaus läuft, oder?“
Er maß sie mit einem seltsamen Blick. „Hören Sie, Sie sind eine sympathische junge Frau. Diese Insel ist kein Ort für Sie. Hier gibt es nur noch die Alten. Und die, die schon immer hier waren. Nichts, das Sie interessieren könnte. Dieses Erbe, wahrscheinlich stellen Sie sich Gott weiß was darunter vor. Aber es ist nur ein leeres, heruntergekommenes Haus. Was sich die alte Toinette dabei gedacht hat, eine Fremde als Erbin einzusetzen, versteht niemand. Wahrscheinlich war sie nicht mehr ganz richtig im Kopf. Aber das ist ja nicht verwunderlich, sie war alt und allein, da wird man eben verschroben.“
Meduse senkte den Kopf. Bei diesen deutlichen Worten verflüchtigte sich ihre Euphorie. Was wollte sie eigentlich wirklich an diesem gottverlassenen Ort? Aber da war immer noch das deutliche Gefühl, dass genau hier etwas auf sie wartete, etwas Wichtiges.
„Ich hab kein Schloss erwartet“, sagte sie ruhig. „Aber ich möchte mich für eine Weile hier umschauen. Dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder?“
Der Notar schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht.“
Das Problem würde sich von ganz allein lösen. Ihr würde schnell langweilig werden, und dann würde sie wieder dorthin zurückgehen, woher sie gekommen war.
Er fuhr los. Meduse starrte durch die Autoscheibe und versuchte, so viel wie möglich von ihrer neuen Umgebung in sich aufzunehmen. Es ging die Uferstraße entlang. Zum Meer hin stand eine Reihe kleiner Holzhütten, die in bunten Farben angestrichen waren. Wahrscheinlich gehörten sie den Fischern, die darin ihre Netze aufbewahrten. Ein paar Boote lagen festgepflockt im dunklen Schlick der Ebbe. Weiter draußen dümpelte eine Handvoll Kutter im Wasser.
Der Notar bog in eine Straße ein, die vom Meer weg führte. Kühl und abweisend säumten graue Steinhäuser die Straße. Die Grundstücke waren mit Mauern bewehrt, als müssten sie ihre Bewohner vor Angriffen schützen. Der Ort war wie ausgestorben, Meduse sah keine Fußgänger, auch keine anderen Autos fuhren herum. Schon nach kurzer Zeit hatten sie das Ende der Siedlung erreicht. Eine schmale Straße schlängelte sich einen Hügel hoch, auf dem nur noch ein paar halb verfallene, offensichtlich verlassene Häuser standen.
„Tante Antoinette hat wohl wirklich außerhalb gewohnt.“ Meduses Stimme klang dünn und hoch.
Der Notar warf ihr einen Seitenblick zu. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie dort nicht bleiben können. Aber Sie werden es gleich selbst feststellen. Das da ist es.“ Er deutete nach weit vorn, dorthin, wo die Straße zu Ende war.
Das Haus stand völlig allein auf einer Anhöhe, nur umgeben von flachen Felsen, Moos und Gräsern. Ein paar struppige Büsche mit spärlichen, kleinen Blättchen duckten sich am Boden. Einige Schritte weiter links fiel der Felsen steil ab zum Meer. Hier oben war die Sicht besser, der Nebel war zurückgeblieben. Der Himmel war hell, und ein kleiner Lichtstrahl stand genau über dem Haus. Meduse betrachtete die dicken, steinernen Mauern. Das Dach bestand aus dunklem Schiefer, und die Fenster waren mit stabilen Fensterläden verschlossen. Es gab keine anderen Farben an dem Haus, nur dieses Grau, das sich der eigentümlichen Landschaft vollkommen anpasste. Dies war wirklich ein einsamer Ort. Wenn ihre Großtante sich hier wohlgefühlt hatte, dann hatte sie wahrhaftig nicht viel Wert auf menschliche Gesellschaft gelegt.
Mit einem Ruckeln kam das Auto zum Stehen, und Maitre Legrand stellte den Motor ab. In der plötzlichen Stille war das Pfeifen des Windes zu hören, der die Gräser bog und wie mit einem groben Kamm die dünnen Zweige der Büsche striegelte. Eine Gänsehaut kroch Meduse über den Rücken. Sie stieg aus, und der Wind begrüßte sie sofort mit einer stürmischen Umarmung. Fest stemmte sie sich gegen die kalte Luft und näherte sich wie magisch angezogen Schritt für Schritt der Abbruchkante.
„Passen Sie auf, gehen Sie nicht zu nah ran. Die Fallwinde sind gefährlich“, rief der Notar ihr zu.
Er hatte den Kofferraum geöffnet, aber nun hielt er inne und beobachtete sie. Die Fremde kannte sich nicht aus mit dem tückischen Wind und der Strömung von Luft und Wasser. Auch den trügerisch fest erscheinenden Kanten der Felswände sah man nicht an, wie bröckelig sie in Wirklichkeit waren. Es gab Löcher im Boden, die, mit Gras überwuchert, nicht zu erkennen waren.
„He, warten Sie!“, rief er noch einmal, aber der Wind trieb seine Stimme weg.
Sie setzte wieder einen Fuß vor, um noch etwas näher an den Rand zu kommen. Plötzlich gab der Boden unter ihr nach, und sie verlor das Gleichgewicht. Wie erstarrt hing sie einen Moment in der Luft, den unausweichlichen Sturz vor Augen. Da wurde sie energisch an den Schultern gepackt und zurückgerissen. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie den Notar an.
„Man muss aufpassen, wohin man tritt. Der Boden ist brüchig. Hier ist es nicht ratsam, Löcher in die Luft zu starren.“
Er wischte mit dem Fuß ein Grasbüschel beiseite. Ein Hohlraum wurde sichtbar, der bis zur Abbruchkante verlief.
„Wenn Sie da reintreten, kann es passieren, dass Sie sich blitzschnell unten auf den Klippen wiederfinden.“
Entsetzt starrte Meduse auf den Boden. „Danke“, murmelte sie.
„Gehen wir lieber zum Haus.“ Er zog einen Schlüssel aus seiner Tasche. Mit einem unmelodischen Quietschen schwang die dicke Holztür auf.
Im Inneren war es stockfinster. Zu erkennen war nur ein winziger Vorraum, von dem zwei Türen abgingen. Der Notar zückte eine Taschenlampe und wandte sich der ersten Tür zu. „Wenn ich mich recht erinnere, ist hier die Küche.“
Im Schein der kleinen Lichtquelle durchquerte er den Raum, öffnete das Fenster und stieß die Fensterläden auf. Sofort wurde es hell.
Meduse schaute sich um. Ein wahres Ungetüm von Herd beherrschte den Raum. Einige Töpfe und Pfannen waren ordentlich darauf gestapelt. Darüber türmte sich ein Rauchabzug, der aus groben Steinen gebaut war. Er verjüngte sich nach oben und verschwand in der Zimmerdecke. Die kunstvoll gedrechselte Anrichte gegenüber hatte ihre beste Zeit schon lange hinter sich. Sie war verschrammt, und das Holz dunkel vom Alter. Neben dem Herd stand eine Art Kommode, in die ein großes, steinernes Spülbecken eingelassen war. Eine rostige Wasserpumpe thronte darauf. Die Mitte des Raumes nahm ein massiver Holztisch ein, um den ein paar ungleiche Stühle gruppiert waren.
Dem Notar war Meduses fassungsloses Gesicht nicht entgangen. „Strom gibt es hier nicht. Und der Ofen wird mit Kohle und Holz beheizt. Aber mit ein wenig Übung klappt das sehr gut“, erklärte er.
Sie drehte sich zum Fenster. Dort stand ein abgewetzter Ohrensessel. Der ehemals grün gemusterte Stoff war verblasst und fadenscheinig. Sie trat näher und schaute hinaus. Hier hatte ihre Großtante bestimmt oft gesessen und aufs Meer gesehen. Der Blick war spektakulär. Man konnte über den Klippenrand ein Stück weit in die Tiefe schauen. Unten brachen sich die Wellen in gischtigen Schaumkronen. Und dahinter breitete sich bis zum Horizont das Wasser aus. Gerne hätte Meduse sich hingesetzt und dem Spiel der Wellen zugeschaut. Aber der Notar ging zügig weiter. Offenbar wollte er die Besichtigung möglichst schnell hinter sich bringen.
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