„Euer Klassenlehrer hat euch aufgetragen, die Binomischen Formeln übers Wochenende zu lernen “,
begann sie und schaute ins Klassenbuch.
„Giuseppe, wie lautet die Erste?“
„Pech für Fellini“,
dachte Pit,
„warum benimmt er sich immer so auffällig?“
Selbstgefällig tönte selbiger:
„Ich kann sie nicht, weil ich diesen Quatsch sowieso nicht brauche, wenn ich Schlagersänger werde.“
„Du musst es ja wissen. Dafür gibt es nur ein ‚ungenügend‘ “,
lautete die Konsequenz. Meli meldete sich. Miss Piggy, der Spitzname hatte inzwischen die Runde gemacht, hörte sie ab und lobte die fehlerfreie Ansage. Mia, ihre Banknachbarin, sollte sie an die Tafel schreiben. Nur zögernd, fast ängstlich bewegte sie sich nach vorne. Körperlich konnte sie mit den anderen Mädchen nicht mithalten. Klein und durch eine Krankheit geschwächt, litt sie fürchterlich unter diesem Makel. Das prägte auch ihr Selbstbewusstsein. Sie reichte kaum an die Stelle auf der Tafel, wo sie die Formel hinschreiben sollte. Meli sprang nach vorne, zog die Schreibfläche runter und blieb neben ihr stehen. Sie nickte und ermutigte ihre Banknachbarin mit einem aufmunternden Blick. Erst jetzt schrieb Mia die Gleichung sauber und einwandfrei an. Gleichzeitig senkten einige ihre Köpfe in der Hoffnung, nicht dran zu kommen. Pit meldete sich. Die Referendarin missachtete seinen erhobenen Finger und forderte stattdessen Stinki auf, die zweite Formel aufzusagen. Der trug sie fließend vor, er hatte ja die Tafel als Vorlage, ersetzte nur Plus durch Minus.
„Es gibt einen Fehler, denke nach!“
Der Erwähnte, überzeugt alles richtig gemacht zu haben, schaute verlegen auf seine Bank. Pit und Meli meldeten sich. Diesmal bekam er den Vorzug und sollte die Formel entsprechend berichtigen. Unbeholfen, ganz gegen seine Gewohnheit, hechtete er an nach vorne und wäre beinahe gestürzt. Mit krakeliger Schrift schrieb er die zweite an. „Richtig“,
lobte Miss Piggy,
„und nun du da hinten, hast du den Fehler erkannt?“
Stinki knurrte so etwas wie „Ja“. Er hätte auch gerne mal ein Lob kassiert. Die dritte Formel musste Anne ansagen. Weil sie richtig geantwortet hatte, durfte sie sie auch gleich anschreiben. Der Unterrichtsablauf normalisierte sich wieder. Offenbar übertrug sich das auch auf die junge Anwärterin, die wieder sicherer wurde. Sie ließ noch von Anne die Tafel schließen, um so den Anschrieb zu verdecken.
„Jetzt bin ich gespannt, wer die drei Formeln fehlerfrei zustande bringt“,
wandte sie sich erneut an die Klasse. Gespannte Ruhe. Pit und Meli hoben zögernd die Hände. Ihr Blick fiel wieder auf Pit. Mit einem wohlwollenden „Mach mal, Pit!“ forderte sie ihn diesmal auf. Leiernd und fehlerlos präsentierte er das mühsam Gelernte. Dass sie ihn Pit genannt hatte, schätzte er besonders.
„Das war eine sehr gute Leistung“,
lobte sie zudem,
„ich werde es Herrn Berg übermitteln.“
Sie ‚Miss Piggy‘ zu nennen, kam ihn nach den anerkennenden Worten plötzlich respektlos vor. Aufmerksam folgte er jetzt dem Unterricht, fand ihn sogar interessant. Sie kündigte den nächsten Schwerpunkt, nämlich die ‚Anwendung und Nützlichkeit der Formeln‘ in allen möglichen Situationen an. Einige notierten den Tafeltext. Danach ergänzte sie mündlich:
„Berechne mit Hilfe einer Binomischen Formel das Quadrat von 21 im Kopf!“
Zusätzlich schrieb sie die Aufgabe 21² an die Tafel. Dicki meldete sich wie verrückt. Auch Meli hob den Arm. Er bekam aber den Zuschlag:
„Du da hast das Ergebnis schon?“
„241“
verkündete er stolz und schaute sich triumphierend in der Klasse um.
„Gut !“,
quittierte sie die Antwort,
„Nun erkläre uns noch, wie du die Lösung gefunden hast.“
Dicki wurde puterrot und murmelte:
„Das kann ich nicht!“
Einige Proteststimmen riefen:
„Der hat doch den Taschenrechner benutzt, der ist doch viel zu blöd, um die Lösung im Kopf zu finden.“
Dicki besaß tatsächlich einen raffiniert getarnten Rechner in seiner Federmappe, von dem keiner wissen sollte. Jetzt hatten sie ihn entlarvt, das machte ihn missmutig und schweigsam, er schaltete um auf stur. Die Referendarin verzichtete auf weiteres Nachfragen und ließ Meli als Nächste vortragen. Sie bestätigte das Resultat und erklärte auch, wie sie gerechnet hatte, nur es entsprach nicht der Aufgabenstellung. Da sich niemand mehr meldete, sollte Fauli überlegen, wie man denn mittels der Formeln rechnen könnte.
„Mit so einem Klimbim befasse ich mich erst gar nicht, wozu gibt es denn einen Taschenrechner“,
antwortete er aufmüpfig und bekam von mehreren Seiten Zustimmung. Verärgert über ihn, versuchte nun die junge Frau, ihm die Unsinnigkeit seiner Antwort zu erklären. Sie stieß aber bei den meisten Schülern auf Ablehnung. Er wurde zunehmend lauter, und der Unterricht geriet erneut aus den Fugen. Sie beschloss, an einigen Beispielen den Rechenweg zu erläutern. Die Zahl 21 zerlegte sie in die Summe 20 + 1, klammerte sie und erhob sie ins Quadrat. Jetzt wollte sie wissen, ob jemandem eine Gemeinsamkeit zu den Formeln aufgefallen sei. Da nur noch Wenige zuhörten, war die Resonanz mager. Anne meldete sich.
„Man könnte für a die 20 einsetzen und für b die 1. Dann braucht man nur noch im Rest der Formel das Gleiche tun.“
Frau Seidenfad nickte zustimmend und ergänzte an der Tafel: 20² + 2 x 20 x 1 + 1².
„Das kann man relativ leicht im Kopf ausrechnen“,
überlegte Pit. Er merkte, dass man auf diese Weise schnell und einfach zu einem Ergebnis kam. Auf einmal schien es ihm nützlich, die Formeln zu kennen. Leider betraf es nur Wenige, die so dachten wie er. Die Meisten schienen davon überzeugt, dass im Zeitalter des Taschenrechners solche Gehirnakrobatik überflüssig sei. Im zunehmenden Tumult ging die Stunde zu Ende. Alle waren froh, sicherlich auch die Referendarin. Sie packte ihre Tasche und verließ wortlos den Raum.
In der beginnenden kleinen Pause spielte der verkorkste Unterricht schon keine Rolle mehr. Man tauschte vielmehr Neuigkeiten vom letzten Wochenende aus. Es klingelte. Frau Engelmann trat in die Klasse, jeder suchte schnell seinen Platz auf. Dann wurde es still. „Guten Morgen“, grüßte sie, warf einen Blick in die Anwesenheitsliste, schaute in die Runde, nickte und schloss das Klassenbuch wieder. Ihr Gruß wurde nur von Einigen erwidert. Straff und ohne Kompromisse führte sie die Klasse durch die Literaturstunde. Lessings Fabeln standen auf dem Plan. Die Geschichte vom ‚Fuchs und dem Raben‘ sollte heute tiefgründiger beleuchtet werden. Am Schluss forderte sie Locke auf, herauszuarbeiten, was Lessing den Menschen mittels der Tiersprache wohl sagen wollte.
„Der Fuchs hat dem Raben den Käse abgeschwatzt.“,
so ihre Antwort,
„Oder?“
„Bei dir wundere ich mich nicht, Floriane, du solltest vielleicht noch mal über deine Antwort nachdenken“,
wurde ihr geraten. Locke schaute verdutzt in die Runde. Sie konnte sich keinen Reim auf die Bemerkung machen, außerdem hatte sie andere Sachen im Kopf. Da klingelte es schon wieder. Das deutliche „Auf Wiedersehen!“ der Lehrerin ignorierten wieder die meisten, gedanklich befanden sie sich bereits in der großen Pause.
Auf dem Schulhof liefen fast alle auseinander. Die Clique traf sich hinten am Zaun unter der Linde. Nur Fauli fehlte noch, er hatte seit einiger Zeit ein Auge auf Anne geworfen und wollte sie heute abpassen. Sie ging aber an ihm vorbei, schenkte ihm nicht mal einen Blick. Enttäuscht gesellte er sich zurück zur Truppe. Die diskutierte bereits heftig über seinen Ausrutscher in der Mathestunde. Pit befand, dass der Unterricht der Referendarin gar nicht so übel gewesen sei und bekam Zustimmung von Meli. Er schlug vor, sie künftig wieder Frau Seidenfad zu nennen, erntete aber nicht die ungeteilte Zustimmung der Anderen. Dicki präsentierte eine Tüte mit Spritzgebäck. Gönnerhaft reichte er sie rum. Stinki und Fauli nahmen ein Teil, Pit und Meli lehnten dankend ab. Er selbst vertilgte genüsslich den größten Teil des Restes. Unerwartet näherte sich Rocky aus der 8b mit seinen beiden Kumpanen Schlepptau. In ihren Punkerklamotten fielen sie sofort auf. Provozierend baute sich Rocky vor Dicki auf.
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