Sami duckt sich unter einem Absperrband der Polizei hindurch, das an Verkehrsbaken aus Plastik hängt. Leute treten zur Seite und starren ihn an, als wäre er eine Art Geist.
Sechseinhalb Pfund TATP – die Mutter des Satans – haben gerade ein gähnendes Loch in einen vollgestopften Wagen der Central Line geblasen und dabei das Dach abgezogen wie ein Riese den Deckel einer großen Dose Pfirsiche.
Eine gewaltige Explosion in der Londoner U-Bahn. Ein Mann, der mit einem Rucksack unbekannten Inhalts aus dem Schacht klettert. Und wegrennt. Bald wird er verfolgt. Und kann den Polizisten entkommen, weil er behauptet, er hätte eine Bombe in seinem Rucksack. Das kurze Anfangskapitel endet sprachlich so furios, dass es den Leser in die Vergangenheit mitreißt. Rückblick? Na und? Ich will wissen, was passiert ist! Und was weiter mit Sami passiert. Dafür darf mich der Autor sogar bis zu Adam und Eva zurückschleifen. Wenn er das nur so überzeugend tut wie Michael Robotham.
Und so endet der Anfang des ersten Kapitels, vor dem Rückblick:
Eine Bombe. Er sagte ihnen, er hätte eine Bombe. Was für ein preisverdächtiger Schlamassel. Was für ein Witz! Sami hat nicht bloß Pech; er ist ein wandelnder Unglücksstein, ein Jona, eine Einmann-Abrisstruppe. Er ist Trouble mit einem großen T und das steht für Tod.
Drei Tage zuvor kam er aus dem Gefängnis und schwor sich, er würde nie wieder dorthin zurückgehen. Sechsunddreißig Stunden zuvor vögelte er Kate Tierney, die Frau seiner feuchten Träume in einer Suite des Savoy und dachte, das Leben würde endlich wieder seinen Kopf heben. Jetzt trägt er einen Rucksack durch das West End von London, der ihn für den Rest seines Lebens zurück ins Gefängnis schicken könnte, und hat sich selbst zum meistgesuchten Mann Großbritanniens gemacht.
Und so ist die Sache abgelaufen.
Noch mal: Es ist nicht der Inhalt, der den Leser hier in die Rückblende trägt – besser: schleudert –, auch wenn er seine Rolle dabei spielt. Für das Funktionieren von Robothams Rückblende sorgt etwas anderes: Die Story ist, im Gegensatz zu der in dem Tee-am-Küchentisch-Beispiel oben, noch nicht vorbei. Vielmehr folgt die Rückblende einer spannenden und noch offenen Situation. Mehr als alles aber ist es die packende Sprache, perfekt für einen Thriller, die die Rückblende hier ermöglicht und funktionieren lässt.
Es reicht nicht, wenn Sie dem Leser irgendeine vertrackte Situation vorsetzen und dann glauben, dies allein genüge. Vor allem anderen kommt es auf die Umsetzung an: Wie Sie mit Sprache umgehen und ob Ihre Erzählstimme den Leser packt.
Werden Sie Erzähler mit großem E. Das E steht für Energie, für Einfälle, für Elektrisierung des Lesers.
Schneller-Bestseller-Trick:Sie verspüren den Drang, gleich zu Anfang Ihres Romans eine ausführliche Rückblende zu schreiben? Geben Sie ihm nach. Erklären Sie darin dem Leser das Wichtigste. Machen Sie die Rückblende spannend, voller Konflikt, dramatisch. So gut eben, wie ein Anfang sein muss.
Dann löschen Sie die Rückblende. Tun Sie’s. Mit der Energie und dem aufgefrischten Wissen noch in Fingern und Hinterkopf schreiben Sie die richtige Eingangsszene. Lassen Sie später nach und nach die dramatischsten Stellen der Rückblende in die Gegenwartshandlung einfließen – ohne dadurch das Tempo (zu stark) zu drosseln.
Wie Handlung und Backstory sich optimal ergänzen
Ein toter Vogel zum Valentinstag
Romane können und wollen nur einen Ausschnitt eines Lebens erzählen, sie picken sich die Punkte in der Chronologie des Helden heraus, die das Thema am besten transportieren. So auch in Melissa Jacobys Roman » Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit « (Droemer 2011):
Neben der Frau sitzt ein hübsches blondes Mädchen: ihre Tochter Hayley. Sie sieht aus, wie ihre Mutter wahrscheinlich ausgesehen hat, bevor die Jahre ihren Tribut gefordert haben, nur ohne das ganze Make-up.
»Ich weiß, wer du bist«, sagt Hayley. »Wir waren zusammen in der ersten Klasse.«
»Ich war nie in der ersten Klasse«, sagt Mead [, der Held und Erzähler] .
»Doch, das warst du. Ich habe dir einen Schuhkarton mit einem toten Vogel drin zum Valentinstag geschenkt. Du weißt schon, weil dein Vater Bestatter ist. Das war ziemlich gemein von mir, aber ich war auch erst sechs. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«
Großartig: Am schlimmsten Tag seines Lebens muss er also von all den Leuten in High Grove ausgerechnet neben der Person sitzen, die für den zweitschlimmsten Tag seines Lebens verantwortlich ist.
Jacoby verrät uns hier, wie man für maximale Dramatik sorgt: Das schlimmste – allgemeiner: das emotional dramatischste – Ereignis in der Erzählgegenwart trifft auf das emotional dramatischste aus der Backstory. Und sorgt so für den, bei richtiger Ausführung, emotional dramatischsten Moment des Buchs. Keine Sorge. In Jacobys Roman ist die zitierte Stelle nicht der dramatischste Moment. Der sollte nicht schon auf Seite 34 von 456 kommen.
Übrigens: Ich verwende den Begriff Backstory hier zur Beschreibung der Zeit, die chronologisch vor der Erzählgegenwart des Romans liegt. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes stammt aus der Bühnensprache und beschreibt das, was hinter den Kulissen vorgeht, für den Zuschauer unsichtbar.
Stellen Sie sich die Dramaturgie der Handlung in der Erzählgegenwart und die der Backstory als zwei Kurven vor, die im Lauf des Buchs immer weiter ansteigen. Die Dramatik des Romans ist die Summe dieser beiden Kurven.
Für maximale Dramatik sorgen Sie, wenn Sie beide Kurven etwa im selben Moment stark ansteigen lassen, sprich: indem Sie genau dann einen emotional packenden Moment der Backstory in die Handlung einfließen lassen, wenn die Handlung selbst schon hoch dramatisch ist.
Das Zusammenlegen der Dramatik in der Backstory mit der in der Erzählgegenwart hat einen wichtigen Vorteil: Je emotional packender es gerade in der Handlung zugeht, desto mehr können Sie an dieser Stelle an Backstory hineinpacken. Genauer: Nach einem irrsinnig dramatischen Cliffhanger dürfen Sie sich eine ausführlichere Rückblende leisten, ohne den Leser zu verlieren.
Dennoch rate ich zur Vorsicht bei solcher Dramaturgie. Die Rückblende sollte organisch kommen und nicht wie ein Eingriff des Autors wirken. Geben Sie Ihren Leser niemals das Gefühl: »Ah, klar, ein Cliffhanger, und jetzt kommt die Rückblende. Ein übler Trick.« Sie dürfen und Sie sollen Erzähltricks anwenden. Aber bitte so, dass der Leser diese Tricks nicht bemerkt.
An der Analyse von Romanen kommen Sie nicht vorbei. Nur wenn Sie darin geübt sind, holen Sie aus Ihren eigenen Texten das Bestmögliche heraus. Der analytische Blick schmälert zwar manchmal das Lesevergnügen, eben weil er das Eintauchen in die Handlung und die Welt des Romans stört. Aber wenn Sie die Mechanismen von Literatur verstehen wollen, müssen Sie diesen Preis zahlen.
Anderseits werden Sie das gute Gefühl zu schätzen lernen, wenn Sie hinter einen Trick des Autors gekommen sind und – das ist das Allerbeste daran – wissen, wie Sie damit den eigenen Roman besser machen.
Wie aber finden Sie nun die wichtigsten, die richtigen Stellen im Leben des Helden – in seiner Backstory?
Kommt darauf an. Falls Sie schon die Handlung im Jetzt des Romans kennen, bei der Backstory aber noch unentschieden sind, können Sie sich die dramatischste Stelle der Backstory so zurechtschneidern, dass sie thematisch optimal zum dramatischsten Moment der Handlung passt.
Klar können Sie das, Sie sind der Boss in Ihrem Roman.
Im Beispiel oben wäre das ein Moment im Leben des Helden, der eng mit dem Thema des Romans oder einem zentralen Motiv verbunden ist, etwa dem Bestattungsunternehmen des Vaters.
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