Als er wieder auf den Beinen gelandet war, hoffte er, nun selbst befriedigt zu werden. Sein Penis drückte hart gegen den Stoff seiner Hose.
„Werden wir jetzt Sex haben?“, fragte er schüchtern.
„Ach, Süßer, ich muss doch nach Hause...“
„Aber ich...“
„Ja, ja, du warst toll. Wir werden das nachholen, ist versprochen.“
Sie zerrte ihn um die nächste Straßenecke. Vor ihrer Haustür hatte sich in Roman neuer Mut angesammelt. Er wollte doch auch sein Ejakulat abgeben. Voller Tatkraft packte er das Vollmondgesicht im Nahkampfgriff, dass ihr für einen Augenblick die Luft weg blieb. Dann trat sie ihm gegen das Schienbein, knallte ihm eine Ohrfeige herunter und war im nächsten Moment im Haus verschwunden.
Roman hielt sich die Wange, dann massierte er sich das Schienbein. Er wusste, dass er irgendetwas nicht ganz richtig gemacht hatte. Dann kam Zorn in ihm auf.
„Blöde Ziegen sind sie alle!“, schimpfte er vor sich hin. „Die ganze Menschheit ist blöd! Die Weiber, die Lehrer – alle! Es muss etwas geschehen! Etwas Besonderes!“
Roman rief es durch die nächtlichen Straßen von Augsburg, dass sämtliche Hunde im Viertel zu bellen anfingen. Dann latschte er weiter. Irgendetwas muss passieren, verdammt nochmal! So konnte das Leben doch nicht weitergehen!
Da kam er an einer Kneipe vorbei. Schwarzer Blues tönte aus den Fenstern. Roman ging hinein.
Die Kneipe am Augsburger Bahnhof war gesteckt voll. An der Theke hingen langhaarige Typen in nietenbesetzter Lederkleidung herum. Ihre Bärte badeten sie in Bier. Rauchwolken wogten wie gärender Wein durch die Pinte. Alle Gäste, die Roman in Augenschein nahmen, verzogen die Gesichter. Er war ein bisschen zu anders gekleidet, als die Typen in der Kneipe.
Roman Schreiber war es gleichgültig, wie sehr er in dieser Pinte auffiel. Er war zum ersten Mal in seinem Leben stocksauer. Was dachten sich diese blöden Weiber nur? Ließen sich befriedigen und zeigten dann die kalte Schulter.
„Ein Bier und einen Tequila mit Limette und Salz!“, knurrte er die Bedienung an.
Es war auch das erste Mal in seinem Leben, dass er ein Bier und einen Tequila bestellte, hatte aber aus dem Freundeskreis gehört, dass man dies so machte. Aber irgendwann ist ja immer das erste Mal.
Er rieb Limettensaft auf die Hand, streute Salz darüber, trank den Tequila und leckte die Haut ab. Anschließend nahm er einen großen Schluck Bier und schüttelte sich, da es grässlich schmeckte.
„Noch einen Tequila“, rief er zur Bedienung.
Die Szene wiederholte sich mehrmals. Aber schon nach dem dritten Schnaps sah die Welt ganz anders aus. Roman spürte die Ohrfeige nicht mehr, und auch das Schienbein war wieder in Ordnung. Und die Zählerei aus der Tanzstunde hatte einen neuen Rhythmus: Eins, zwei – Schluck – eins, zwei – Schluck...
Es ging ganz prima. Der Tanzrhythmus wurde zum Kneipenrhythmus. Eins, zwei – Schluck...
Der Teufel soll Ellen Lang, Martha Pfahl und den Lehrer Axel Haar holen!
Eins, zwei – Schluck! Das machte kolossal Spaß!
Dann kam ein neuer Klang in die Symphonie: Einsssss, zzzzwei – hicks...
Roman bestellte sich lautstark eine Zigarre und begann zu paffen. Wohlgeformte Kummerwölkchen umhüllten sein Haupt. Die Musik schien immer dieselbe zu sein, jedenfalls kam es Roman so vor. Die Typen, die zu ihren Bluesgitarren sangen, schienen allesamt Kaugummi im Mund zu haben. Aber schön war es doch.
„Die Musssik issss depppert“, lallte Roman und sah erstaunt seiner Krawatte zu, die im Bier badete. „Die Musik und die Kneipe und alles ist deppert. Hier bringt mich keiner mehr raus. Warum bin ich nicht schon öfter hier gewesen?“
Roman begann laut zu philosophieren. „Ich lass mich einbalsamieren, Leute, wenn sich nicht alles sofort ändert! Es wird alles anders! Alles!“
Er stieg auf einen Stuhl und verlangte Silentium. Es wurde wirklich etwas ruhiger und Roman kam in Fahrt. Da holte er zu einer großen Rede aus.
„Auch, ihr Deppen, ihr Wolpertinger und Vollpfosten! Hört, was ich euch zu sagen habe! Ich verkünde meine Resolution! Es wird alles abgeschafft! Der Wecker wird abgeschafft, sämtliche Lehrer werden abgeschafft, die Schulen werden bestreikt! Die Zunft der Tanzlehrer wird zum Sandschaufeln in die Wüste geschickt, die Pädagogen werden durch absoluten Alkoholentzug bestraft, sämtliche Musterschüler zu Schwarzbrennern umerzogen. Ich gehe mit gutem Beispiel voran! Als Beweis, dass ich es ernst meine, vergesse ich sofort sämtliche auswendig gelernte unregelmäßige lateinische Verben, ich ersäufe sie in Bier und Schnaps!“
Applaus brandete auf. Die ganze Meute an der Theke prostete Roman zu.
„Der Junge sieht zwar ungeheuer bürgerlich aus“, sagte einer, „aber seine Ideen sind gut. Mach weiter, Freund!“
Roman ließ sich nicht lumpen. „Leute“, rief er, „hiermit verkünde ich die Abschaffung der Schulpflicht, die Verhaftung des Kultusministers, die Bestrafung aller Streber und Einserabiturienten! Ferner ist die diskriminierende Einteilung in Konfektionsgrößen sofort aufgehoben. Die Staatskasse wird versoffen, der Bundesadler als Pleitegeier über offenem Feuer gebraten. Kapiert?“
„Kapiert!“, brüllte es im Chor.
„Dann erhebt das Glas und trinkt auf unsere neue Kneipenrepublik!“
Nun war es still, denn alle schluckten sie hingebungsvoll. Dann knallten an die hundert Gläser auf die Tische zurück und sämtliche Bedienungen gerieten in höchste Aktionen, denn es musste neuer Treibstoff herangebracht werden.
Roman hatte Luft geholt, um eine neue Resolution zu verkünden, da merkte er, dass ihn jemand am rechten Hosenbein zupfte.
„Was isss denn los, Kumpel?“, fragte er von seiner Höhe hinunter.
Da stand ein Langhaariger und schaute grinsend zu Roman hinauf. Aus einem mächtigen Bart leuchtete ein gepflegtes, weißes Gebiss, zwei strahlende Augen lugten unter dem Pony hervor.
„Gut gebrüllt, Löwe“, sagte der Typ. „Ich frag mich nur, wie lange du die Luft dort oben noch aushältst. Komm runter, bevor du eine Ozonvergiftung bekommst.“
Roman schaute sich um – da wurde ihm schwindlig. Erst jetzt merkte er, dass er auf einem Stuhl stand, der auf geheimnisvolle Weise auf einen Tisch gekommen war. Sofort begann Roman zu schwanken und griff, um nicht augenblicklich zu fallen, den Leuchter, der sich dicht über ihm befand.
„Verdammt“, rief er entsetzt. „Holt die Bergwacht, sie soll mich abseilen! Hiiiilllllfe!“
Eine Schrecksekunde lang war alles still, dann stürzten sich einige Entschlossene auf Roman und holten ihn von der Decke herunter. Dass er ihnen dabei ausrutschte und auf den Boden fiel, war zwar ihre Schuld, doch nicht ihre Absicht.
„Verdammt, passt doch auf!“, schimpfte der Typ, der Romans kritische Lage zuerst bemerkt hatte. „Bringt den Burschen nicht um, er wird noch gebraucht. Er ist ein Genie und hat alle Chancen, mein Freund zu werden.“ Er wandte sich Roman zu. „Alles in Ordnung, Volksredner?“
„Alles klar, Mann. Unkraut vergeht nicht.“
„Du bist verdammt talentiert“, sagte der bärtige Typ. „Und außerdem bist du besoffen. Das imponiert mir kolossal.“
Roman wurde es regelrecht warm ums Herz. Er zog die Jacke aus und schleuderte sie in Richtung Kneipenecke. Sie blieb jedoch am Kronleuchter hängen.
„So ist es recht“, sagte der Typ. „Wenn du dich entschließen könntest, in Zukunft vernünftige Klamotten anzuziehen, kann man dich sogar herumzeigen. Wie heißt du denn überhaupt?“
„Roman... hicks... Schreiber.“
„Ich bin Tim Buktu.“
Sie schüttelten sich die Hände.
„Weißt du was, Tim“, sagte Roman. „Du erlebst heute einen ganz besonderen Tag. Ich habe heute nämlich den ersten Suff der Familie Schreiber seit vielen Generationen erstanden. Seit mindestens drei Generationen! Das ist doch klasse, wie?“
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