Nachdem wir gestorben sind, verlässt unser sehr subtiler Geist unseren Körper und tritt in den Zwischenzustand oder «Bardo» auf Tibetisch ein. In diesem subtilen, traumähnlichen Zustand erleben wir viele unterschiedliche Visionen, die aus den karmischen Potenzialen entstehen, die zum Zeitpunkt unseres Todes aktiviert wurden. Diese Visionen können angenehm oder furchterregend sein, abhängig vom Karma, das heranreift. Sind diese karmischen Samen erst einmal gänzlich gereift, dann zwingen sie uns in eine Wiedergeburt, ohne dass wir eine Wahl haben.
Es ist wichtig zu verstehen, dass wir uns als gewöhnliche samsarische Wesen unsere Wiedergeburt nicht aussuchen können, sondern allein in Übereinstimmung mit unserem Karma wiedergeboren werden. Reift gutes Karma heran, so werden wir in einem glücklichen Zustand wiedergeboren, entweder als Mensch oder Gott. Reift jedoch negatives Karma heran, so werden wir in einem niederen Zustand wiedergeboren, als Tier, hungriger Geist oder Höllenwesen. Es ist, als würden wir von den Winden unseres Karmas in unser zukünftiges Leben geweht, manchmal landen wir in höheren Wiedergeburten, manchmal in niederen.
Dieser ununterbrochene Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, ohne Wahlmöglichkeit, wird «zyklische Existenz» oder «Samsara» auf Sanskrit genannt. Samsara gleicht einem Riesenrad, das uns manchmal nach oben in die drei höheren Bereiche bringt und manchmal nach unten in die drei niederen Bereiche. Die treibende Kraft des Rades von Samsara sind unsere verunreinigten, durch Verblendungen motivierten Handlungen und die Radnabe ist die Unwissenheit des Festhaltens am Selbst. Solange wir in diesem Rad bleiben, erleben wir den unaufhörlichen Kreislauf von Leiden und Unzufriedenheit und werden keine Gelegenheit haben, reines, dauerhaftes Glück zu erleben. Wenn wir jedoch den buddhistischen Pfad zur Befreiung und Erleuchtung umsetzen, so können wir das Festhalten am Selbst zerstören, uns dadurch vom Kreislauf unkontrollierter Wiedergeburt befreien und einen Zustand vollkommenen Friedens und vollkommener Freiheit erlangen. Dann werden wir anderen helfen können das Gleiche zu tun. Eine ausführliche Erklärung über Wiedergeburt und Karma findet sich in den Büchern Einführung in den Buddhismus und Freudvoller Weg.
Maitreya
Bodhisattva Langri Tangpa
Der Autor der Acht Verse der Geistesschulung ist der Meister, oder Geshe, des Kadampa Buddhismus, Bodhisattva Langri Tangpa. Seine Lebensgeschichte zu lesen und seine guten Eigenschaften zu kennen, wird uns helfen, Vertrauen in ihn zu entwickeln und die Authentizität der Acht Verse zu schätzen. Dies wiederum wird unsere Entschlossenheit stärken, diese Anleitungen umzusetzen.
Bodhisattva Langri Tangpa wurde im elften Jahrhundert n. Chr. in Zentraltibet geboren. Sein wirklicher Name war Dorje Senge, bekannt wurde er jedoch unter dem Namen Langri Tangpa, nach Lang Tang, der Gegend, in der er lebte. Er war ein Schüler von Geshe Potowa, der einer der Hauptschüler des buddhistischen Meisters Atisha war, der den Kadampa Buddhismus in Tibet gründete.
Geshe Potowa war in ganz Tibet als großer Gelehrter angesehen, der für andere Praktizierende ein makelloses Vorbild war, indem er den Schwerpunkt seiner Praxis auf Bodhichitta legte, den altruistischen Geist der Erleuchtung. Er verfasste viele tiefgründige Schriften des Kadampa Buddhismus, insbesondere einen Text namens Die Schrift der Beispiele, in dem er anhand von Alltagserfahrungen die Bedeutung des Dharma veranschaulichte. In diesem Text erzählt er die Geschichte eines Diebes, der in ein Haus einbrach, ein Fass Chang, oder tibetisches Bier, fand und sich dann betrank. Die Familie erwachte von seinem Gesang: «Wie glücklich bin ich, dass ich vom Mund des Fasses Chang trinken kann, doch noch viel schöner wäre es, wenn ich vom Boden des Fasses trinken würde!» Geshe Potowa nahm den Gesang des Diebes als Gleichnis und änderte die Worte wie folgt: «Wie glücklich sind wir, dass wir Dharma mit dem Mund praktizieren, doch noch viel schöner wäre es, wenn wir aus der Tiefe unseres Herzens praktizieren würden!» Ein tibetisches Sprichwort besagt, dass die Schüler Geshe Potowas so zahlreich wie die Sterne am Himmel waren und dass seine zwei Hauptschüler Geshe Langri Tangpa und Geshe Sharawa wie Sonne und Mond waren.
Bodhisattva Langri Tangpa wurde in ganz Tibet als heiliger Mann verehrt und er wurde von vielen großen Meditierenden als Emanation Buddha Amitabhas betrachtet. Obwohl er von anderen als etwas Besonderes angesehen wurde, blieb er immer bescheiden und hielt andere für wichtig und des Respekts würdig. Reichtum, Ansehen und andere weltliche Erlangungen waren ihm vollkommen gleichgültig und er lebte viele Jahre in Armut, fast wie ein Bettler. In seinem Inneren jedoch beschäftigte er sich mit der Übung, die als «die Niederlage annehmen und anderen den Sieg anbieten» bekannt ist, indem er alle Schwierigkeiten und widrigen Umstände, die ihm begegneten, freudig annahm und sein Glück und seine guten Bedingungen anderen anbot. Seine Bereitwilligkeit, mit der er Armut und Entbehrung annahm, war für andere spirituell Praktizierende ein gutes Vorbild.
Bodhisattva Langri Tangpas Auftreten war ganz anders als das der meisten Menschen. Wir neigen dazu, uns allzu sehr zu sorgen ob andere uns mögen und bemühen uns deshalb stets einen heiteren Ausdruck zu zeigen, ganz gleich, wie wir uns innerlich fühlen. Langri Tangpa war das Gegenteil. Seine Miene war immer so streng und ernst, dass er den Spitznamen «der Grimmige» erhielt. Sein Assistent sagte einmal zu ihm: «Die anderen nennen dich ‹der Grimmige›. Es wäre gut, wenn du ab und zu lächeln und sanft zu ihnen sprechen würdest, wenn sie kommen, um Segnungen von dir zu empfangen.» Langri Tangpa antwortete: «Es stimmt, was du sagst, doch fällt es mir schwer, irgendetwas in Samsara finden, worüber ich lächeln könnte. Jedes Mal, wenn ich jemanden sehe, denke ich an sein Leiden und anstatt zum Lachen ist mir zum Weinen zumute.» Aufgrund seines tiefen Mitgefühls für alle Lebewesen fiel es Langri Tangpa schwer zu lächeln. Es ist wichtig, das nicht falsch zu verstehen. Langri Tangpa war nicht unglücklich. Sein Mitgefühl und andere spirituelle Verwirklichungen beschützten ihn davor, sich je deprimiert zu fühlen, und sorgten dafür, dass er voller Freude war. Ihm war jedoch klar, dass es kein wahres Glück in Samsara gibt und dass wir uns nur noch fester an Samsara binden, wenn wir weltliche Freuden mit wahrem Glück verwechseln. Seine strenge Art forderte die Menschen heraus, sich mit ihrer tatsächlichen samsarischen Lage auseinanderzusetzen und spirituelle Pfade einzuschlagen.
Langri Tangpa lachte nur selten und wenn, dann war das so außergewöhnlich, dass sein Assistent es niederschrieb. So meditierte Langri Tangpa einmal in einer Höhle an einem Berghang mit Blick über einen Fluss. Es war mitten im Winter und der Fluss war vollständig zugefroren. Ein reisender Töpfer überquerte den Fluss, doch vollbeladen mit Töpfen, rutschte er immer wieder aus und Töpfe zerbrachen. Da der Töpfer wusste, dass sich Langri Tangpa irgendwo an diesem Hang aufhielt, rief er jedes Mal, wenn er ausrutschte: «O Langri Tangpa, Grimmiger!», so wie manche Menschen im Westen in ähnlichen Situationen rufen: «O Gott!» oder «O Jesus!». Langri Tangpa hörte das und er fand es so lustig, dass er lachen musste.
Ein anderes Mal, nachdem ihm ein großer Türkis dargebracht worden war, sah Langri Tangpa eine Maus, die versuchte, diesen von seinem Meditationstisch zu stehlen. Da sie den Stein nicht bewegen konnte, verschwand die Maus und kam mit vier anderen Mäusen zurück. Die erste Maus, die kleinste von ihnen, legte sich auf den Rücken und die anderen Mäuse schoben den Türkis auf ihren Bauch. Jede von ihnen fasste an eine Pfote und indem sie schoben und zogen, gelang es ihnen, den Türkis bis zu ihrem Mauseloch zu schleifen. Als sie jedoch dort ankamen, mussten sie feststellen, dass der Stein für das Loch zu groß war, und so mussten sie ihn zurücklassen. Langri Tangpa fand das so amüsant, dass er laut lachte.
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