Obwohl unsere Verblendungen tief verwurzelt sind, sind sie kein innewohnender Teil unseres Geistes und können deshalb mit Sicherheit entfernt werden. Verblendungen sind lediglich schlechte geistige Angewohnheiten und können wie alle Angewohnheiten überwunden werden. Indem wir uns aufrichtig und stetig bemühen, mit konstruktiven Geisteszuständen vertraut zu werden, können wir sogar die hartnäckigsten Verblendungen beseitigen und sie durch entgegengesetzte Tugenden ersetzen. Wir können zum Beispiel unsere Wut verringern, indem wir unseren Geist mit Geduld und Liebe vertraut machen, unsere Anhaftung verringern, indem wir unseren Geist mit Nichtanhaftung vertraut machen, und unseren Neid verringern, indem wir uns am Glück anderer erfreuen.
Um Verblendungen jedoch vollständig zu beseitigen, müssen wir ihre Wurzel zerstören – den Geist des Festhaltens am Selbst. Um dies zu tun, müssen wir unseren Geist mit der wahren Natur der Wirklichkeit, oder endgültigen Wahrheit, vertraut machen. Dies wird ausführlich im Kapitel über Schulung in endgültigem Bodhichitta erklärt. Wenn wir das Festhalten am Selbst zerstören, hören alle anderen Verblendungen ganz natürlich auf, so wie die Blätter und Äste eines Baumes absterben, wenn wir seine Wurzeln zerstören. Haben wir unsere Verblendungen erst einmal vollkommen beseitigt, so wird es völlig unmöglich sein, dass wir unfriedliche Geisteszustände erleben. Da wir nicht länger die inneren Ursachen des Leidens in uns tragen, werden die äußeren Ursachen des Leidens wie Krankheit oder Tod keine Macht mehr haben, unseren Geist zu stören. Diese dauerhafte Beendigung der Verblendungen und des Leidens ist als «Befreiung» oder «Nirvana» auf Sanskrit bekannt.
Obwohl die eigene Befreiung von Leiden eine großartige Erlangung ist, ist sie unzureichend. Wir sind kein isoliertes Individuum, sondern Teil der Familie aller Lebewesen. Alles was wir besitzen, alles was uns erfreut, alle unsere Gelegenheiten für spirituelle Entwicklung und sogar unseren Körper verdanken wir der Güte anderer. Würden wir unserem eigenen Leiden entfliehen und dann alle anderen ihrem Schicksal überlassen wollen? Dann wären wir wie ein junger Mann, der mit seinen alten Eltern in Gefangenschaft gerät, seine eigene Flucht organisiert, jedoch seine Eltern zurücklässt. So jemand hätte unsere Bewunderung nicht verdient. Wir müssen uns definitiv bemühen, uns aus dem geistigen Gefängnis unserer verblendeten Geisteszustände zu befreien, doch unser endgültiges Ziel muss es sein, allen anderen zu helfen, dasselbe zu tun.
Folglich ist unser endgültiges Ziel das Erlangen der vollen Erleuchtung, oder Buddhaschaft. Das Sanskritwort «Buddha» bedeutet «der Erwachte» und bezieht sich auf jeden, der aus dem Schlaf der Unwissenheit erwacht und frei ist vom Traum fehlerhafter Erscheinung. Da gewöhnliche Wesen wie wir noch nicht aus dem Schlaf der Unwissenheit erwacht sind, leben wir weiterhin in einer traumähnlichen Welt fehlerhafter Erscheinungen und sehen nicht die wahre Natur der Dinge. Das ist der Hauptgrund, weshalb wir Leiden erleben und anderen nur bedingt helfen können. Buddhas haben allwissende Weisheit erlangt und die grenzenlose Fähigkeit, allen Lebewesen zu helfen, indem sie alle Spuren der Dunkelheit der Unwissenheit vollständig aus ihrem Geist entfernt haben.
Ihr grenzenloses und allumfassendes Mitgefühl gibt den Buddhas die Energie, ohne Unterlass für das Wohl anderer zu arbeiten. Sie verstehen die wirklichen Ursachen des Glücks und des Leidens und wissen genau, wie sie Lebewesen im Einklang mit ihren individuellen Bedürfnissen und Neigungen helfen können. Buddhas haben die Kraft, den Geist aller Lebewesen zu segnen, sodass sie inneren Frieden erleben können, und die Fähigkeit, unzählige Formen zum Wohle anderer auszustrahlen. Doch die wirksamste Art und Weise, wie Buddhas Lebewesen helfen, besteht darin, sie zu lehren, ihren Geist zu zähmen und dem spirituellen Pfad zur Befreiung und Erleuchtung zu folgen.
Der Gründer des Buddhismus in dieser Welt war Buddha Shakyamuni. Nachdem er Erleuchtung erlangt hatte, gab Buddha vierundachtzigtausend Unterweisungen, die allesamt Ratschläge sind, wie wir Verblendungen bändigen und überwinden, indem wir tugendhafte Geisteszustände entwickeln. Buddhas Lehren sowie die inneren Verwirklichungen, die durch das Umsetzen dieser Lehren erlangt werden, sind als «Dharma» bekannt.
Bodhisattva Langri Tangpa hat in dem Text, auf dem dieses Buch beruht, die Essenz des Buddhadharma in acht kurzen Versen zusammengefasst. Denken wir über die Bedeutung dieser Verse nach, so werden wir sehen, dass sie einen schrittweisen Pfad zu vollkommenem inneren Frieden und Glück enthalten. Setzen wir diese Lehren aufrichtig um, dann werden wir unsere zerstörerischen und selbstbezogenen Geisteshaltungen allmählich besiegen und sie durch die positiven Geistesarten der bedingungslosen Liebe und des Mitgefühls ersetzen. Insbesondere werden wir, indem wir den Anleitungen folgen, die im Kapitel über Schulung in endgültigem Bodhichitta dargelegt werden, die grundlegende Verblendung der Unwissenheit des Festhaltens am Selbst zusammen mit ihren Prägungen überwinden können und dadurch die Glückseligkeit der vollen Erleuchtung erfahren. Wenn wir die Anleitungen umsetzen, die in diesem Buch gegeben werden, werden wir die ganze Zeit einen friedvollen Geist entwickeln und bewahren, sodass wir die ganze Zeit glücklich sind. Dies ist die wirkliche Bedeutung, Glück aus einer anderen Quelle zu suchen.
Obwohl die Acht Verse vor über neunhundert Jahren geschrieben wurden, sind sie heute genauso relevant wie damals. Ob wir Buddhist sind oder nicht, jeder, der den aufrichtigen Wunsch hat, seine inneren Probleme zu überwinden und dauerhaften inneren Frieden und Glück zu erlangen, kann aus Langri Tangpas Rat Nutzen ziehen. Wie oben erwähnt ist Glück ein Teil des Geistes, der geistigen Frieden erfährt. Es existiert nicht außerhalb unseres Selbst. In ähnlicher Weise sind unsere Probleme und unser Leiden Teil des Geistes, der unangenehme Gefühle erlebt. Sie existieren nicht außerhalb von uns. Ist unser Auto kaputt, dann ist das ein äußeres Problem und wir müssen es lösen, indem wir äußere Methoden anwenden. Unsere Probleme sind jedoch innere Probleme und die müssen wir lösen, indem wir einen friedvollen Geist entwickeln und bewahren. Nur wenn Lebewesen einen friedvollen Geist haben, sind sie glücklich. Im Allgemeinen ist es so, dass sie von sich aus keine Kraft haben, einen friedvollen Geist zu entwickeln. Nur wenn ihr Geist Buddhas Segnungen empfängt, können sie einen friedvollen Geist entwickeln und bewahren. Deshalb ist Buddha die Quelle des Glücks aller Lebewesen.
Unser Schlafen gleicht dem Tod, unser Träumen gleicht dem Zwischenzustand und unser Aufwachen gleicht der Wiedergeburt. Der Kreislauf dieser drei Zustände weist auf die Existenz zukünftiger Wiedergeburten hin. Da etwas Hintergrundwissen über Wiedergeburt und Karma hilfreich ist, um die in diesem Buch erklärten Hauptübungen zu verstehen, folgt nun eine kurze Einleitung in diese Themen.
Der Geist ist weder körperlich, noch ein Nebenprodukt körperlicher Prozesse, sondern ein formloses Kontinuum, das eine vom Körper getrennte Wesenheit ist. Wenn der Körper zum Zeitpunkt des Todes zerfällt, erlischt der Geist nicht. Unser oberflächlicher, bewusster Geist hört zwar auf, jedoch nur, weil er sich in eine tiefere Bewusstseinsebene auflöst, den sogenannten «sehr subtilen Geist». Das Kontinuum unseres sehr subtilen Geistes hat keinen Anfang und kein Ende und es ist dieser Geist, der sich, wenn völlig gereinigt, in den allwissenden Geist eines Buddha umwandelt.
Jede Handlung, die wir begehen, hinterlässt eine Prägung, oder ein Potenzial, in unserem sehr subtilen Geist, und jedes dieser karmischen Potenziale zeitigt schließlich seine eigene Auswirkung. Unser Geist gleicht einem Feld und unser Handeln gleicht dem Säen von Samen in dieses Feld. Positive oder tugendhafte Handlungen säen Samen für zukünftiges Glück und negative oder nichttugendhafte Handlungen säen die Samen für zukünftiges Leiden. Diese definitive Beziehung zwischen Handlungen und ihren Auswirkungen – Tugend führt zu Glück und Nichttugend zu Leiden – ist als «Gesetz des Karmas» bekannt. Das Gesetz des Karmas zu verstehen ist die Grundlage buddhistischer Ethik.
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