Abby
Mittwochs war Sport.Ich hasste es. Auch wenn ich ein langärmeliges T-Shirt trug, so waren die Shorts, die wir tragen mussten, so kurz, dass ich aufpassen musste, dass sie nicht weiter nach oben rutschten und die Narben an den Innenseiten meiner Schenkel zeigten. Auch Duschen war ein Problem, weswegen ich stets wartete, bis die anderen Mädchen fertig waren. Die Letzte war gerade mit einem Handtuch um ihren Leib gewickelt aus der Dusche gekommen und ich wartete, bis sie sich angezogen hatte. Nachdem sie endlich aus der Umkleide verschwunden war, schnappte ich mir mein Handtuch aus der Sporttasche. Plötzlich öffnete sich die Tür, und ich verharrte. Fuck! Wer war das jetzt? Was, wenn die Person eine Minute später gekommen wäre, wenn ich bereits ausgezogen war?
„Sieh an, sieh an. Wen haben wir denn da?“, erklang eine allzu bekannte Stimme. Ich versteifte mich.
„Was willst du?“, fragte ich, ohne mich umzudrehen.
Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust, und Schweiß brach auf meiner Stirn aus, doch ich versuchte, mir meine Panik nicht anmerken zu lassen. Bei Mädchen wie Beth war es wie mit einem Raubtier. Du durftest keine Angst zeigen, oder du warst verloren.
„Du wirst langsam zu einem Problem für mich!“, sagte Beth hasserfüllt. „Und das kann ich nicht länger zulassen.“
Ich hörte ihre Schritte, als sie näher kam. Doch es waren nicht nur ihre Schritte. Sie musste wenigstens zwei ihrer Lakaien bei sich haben. Natürlich. Mädchen wie Bethany waren zu feige, um einer Bedrohung allein entgegenzutreten. Natürlich hatte sie Verstärkung mitgebracht.
„Ich halte meinen Abstand, ich komme dir nie in die Quere...“, erwiderte ich ruhig. „Du hast keinen Grund, dich von mir bedroht zu fühlen. Ich weiß echt nicht, was dein Problem ist.“
„Was mein Problem ist?“, kreischte sie und ergriff mich von hinten bei meinen Haaren. Sie rammte mein Gesicht in den Spint vor mir und Schmerz explodierte in meiner Nase. Ich spürte das warme Blut aus meinen Nasenlöchern rinnen.
„Lass mich in Ruhe!“, sagte ich, diesmal nicht mehr in der Lage, das Zittern in meiner Stimme zu verbergen.
„Und warum sollte ich das tun, huh?“
Sie schubste mich, bis ich mit dem Hintern auf der Bank zu sitzen kam. Jetzt sah ich zum ersten Mal, wen sie bei sich hatte. Es waren ihre drei treuesten Anhänger. Sue, Mercedes und Anabelle. Die drei standen wie eine Mauer hinter Beth. Sie machten es deutlich, dass sie ihrer Königin Rückendeckung geben würden, wenn ich versuchen sollte, mich gegen Beth zu wehren.
„Du kannst deine Kämpfe nicht einmal allein kämpfen“, sagte ich voller Hohn. „Du musst dir Verstärkung mitbringen. Vier gegen einen. Hältst du mich für sooo gefährlich, dass es vier von euch braucht? Ich sollte mich geschmeichelt fühlen.“
Beth holte aus und schlug mir hart ins Gesicht. Fuck! Das tat weh. Ich hatte genug davon. Ich mochte keine Chance gegen alle vier haben, doch ich würde auch nicht einfach so da sitzen und mich von Beth verprügeln lassen, ohne mich wenigstens ein wenig zu revanchieren. Ich sprang auf und rammte meine Faust in Beth’ Magen. Sie krümmte sich mit einem Aufschrei. Genugtuung strömte warm durch meine Brust. Doch ich hatte nicht lange Zeit, meinen Triumph zu genießen. Die drei anderen Mädchen sprangen auf mich zu und packten mich. Ich wehrte mich in ihrem Griff, doch ich hatte keine Chance gegen drei Furien auf einmal. Ich wusste, dass mich eine Welt voller Schmerz erwartete. Die drei Mädchen würden mich festhalten, damit Beth mich in Ruhe verprügeln konnte. Feige Bande. Doch zu meinem Entsetzen versuchte Beth nicht, mich zu schlagen, nachdem sie sich von meinem Schlag erholt hatte. Oh nein. Mit einem fiesen Grinsen auf ihren aufgespritzten Lippen holte sie ein paar Einweghandschuhe aus ihrer Tasche und streifte sie in aller Seelenruhe über. Was zum Teufel? Mit einer behandschuhten Hand holte sie ein Steakmesser, wie wir sie in der Schulkantine benutzen, aus ihrem Rucksack. Sie hielt das Messer vor mein Gesicht. Sadistische Freude tanzte in ihren Augen. Die Irre wollte mich abstechen? Ich schrie, doch Sue schlug eine Hand vor meinen Mund und unterdrückte den Laut. Die beiden anderen Mädchen zwangen meine rechte Hand offen und Beth drückte den Griff des Messers in meine Handfläche. Ich hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, doch es konnte nichts Gutes bedeuten. Mit Gewalt zwangen Mercedes und Anabelle meine Finger um den Griff herum. Ein Gedanke ging durch meinen Kopf. Fingerabdrücke. Beth hatte das Messer mit Handschuhen angefasst und nun waren meine Fingerabdrücke auf dem Griff. Sie wollten mir irgendetwas anhängen. Die Frage war nur: was? Als die Mädchen mir das Messer wieder aus der Hand nahmen und an Beth weiter reichten, geschah etwas, was ich nie im Leben für möglich gehalten hätte. Mit einem irren Ausdruck in ihren Augen hob Beth die Klinge an ihr Gesicht und schnitt in ihre Wange. Erst als die Tat vollbracht war, und das Messer auf dem Boden landete, schrie sie auf.
„Was?“, schrie ich entsetzt. „Was zum Teufel...?“
Beth zog sich die Handschuhe aus und Sue nahm sie an sich und rannte aus der Umkleide. Dann fingen Beth und die anderen beiden Mädchen an zu schreien. Sie riefen um Hilfe. Während mich Mercedes und Anabelle auf den Boden nieder drückten und mich dort hielten, setzte sich Beth heulend auf den Boden und hielt ihre aufgeschlitzte Wange. Ich wusste, was die vier Hexen getan hatten, doch es fiel mir schwer, es tatsächlich zu begreifen. Es erschien alles so unwirklich. Ich hätte nie gedacht, dass Beth tatsächlich bereit war, so weit zu gehen, sich absichtlich ihr Gesicht entstellen. Und dass sie mich dafür verantwortlich machen würde. Doch genau das war, was hier geschah. Es überraschte mich nicht, als wenig später die Tür aufgerissen wurde und der Schulleiter zusammen mit den beiden Sicherheitsmännern in die Umkleide stürmten. Ich war erledigt. Niemand würde mir glauben. Es war vier gegen einen. Und die Mädchen waren beliebt und schon lange an dieser Schule. Ich war die Neue. Die Unbekannte. Der Außenseiter.
Ich konnte esnicht glauben. Ich war für zwei Wochen von der Schule suspendiert und ich würde mich für ‚ meinen Angriff ’ auf Beth vor Gericht verantworten müssen. Tante Claire war still, als sie sich auf den Verkehr konzentrierte. Sie, wie alle anderen, hatten mir natürlich kein Wort geglaubt. Zum einen hatte Beth drei Zeuginnen und zum anderen klang es auch viel zu unwahrscheinlich, dass eine Barbie wie Beth, die so viel auf ihr Aussehen gab, sich absichtlich entstellen würde, nur um mir etwas anzuhängen. Ich hatte meine Cousine unterschätzt. Ich wusste, dass sie darauf aus war, mich zu zerstören, doch dieses Szenario wäre mir niemals in meinen kühnsten Träumen in den Sinn gekommen. Was ich nicht begreifen konnte, war, warum sie mich so hasste. Sie war schon als Kind immer darauf aus gewesen, mich für ihre Schandtaten zu diffamieren. Wie mit dem Kätzchen, welches sie zum Geburtstag bekommen hatte. Für eine Weile hatten wir zusammen mit dem niedlichen Tierbaby gespielt, doch auf einmal hatte sich Beth’ Mund zu einer gemeinen Grimasse verzogen. Sie hatte das Kätzchen von meinem Schoß gerissen und ihm das Genick gebrochen. Ich war so geschockt gewesen, dass ich nur da gesessen und auf das arme Kätzchen gestarrt hatte, ohne darauf zu achten, wie Beth anfing zu heulen und nach ihrer Mutter zu rufen. Als Tante Claire gekommen war, hatte Beth unter Tränen erzählt, wie ich ihr Kätzchen getötet hätte, weil ich eifersüchtig war. Ich hatte es natürlich abgestritten, doch niemand hatte mir geglaubt. Es hatte viele solcher Momente in unserer Kindheit gegeben, wo Beth mich für ihre Sünden beschuldigt hatte, bis Mom mich zu einem Psychiater geschleift hatte. Ich wurde als Problemkind abgestempelt. Nicht einmal der Therapeut hatte mir geglaubt.
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