„Ich kann nicht glauben, dass du so etwas tun würdest“, sagte Tante Claire nach einer Weile mit erstickter Stimme. „Nach allem, was ich versucht habe, um dir ein Zuhause zu geben. Ich hätte es besser wissen müssen, mit deinem Hintergrund. Du warst schon als Kind – anders.“
„Ich war es nicht“, erwiderte ich schluchzend. „Beth hat das alles eingefädelt, um mich...“
„SCHLUSS!“, schrie Tante Claire so laut, dass ich geschockt verstummte. Ich wusste, egal was ich tat oder sagte, sie würde mir niemals glauben. Genauso wie mir damals niemand geglaubt hatte.
Kapitel 4
Kent
Ich konnte eskaum glauben. Die ganze Zeit hatten wir Beth nicht ernst genommen. Wir hatten gedacht, es wäre nur ihre Eifersucht, die sie dazu brachte, ihre Cousine zu hassen. Doch nach dem, was in der Mädchenumkleide geschehen war, konnten wir die Tatsachen nicht länger ignorieren. Abby war nicht, was wir gedacht hatten. Sie war alles andere als unschuldig. Ich hätte es ja in Betracht gezogen, dass Beth versuchen würde, ihre Rivalin falscher Tatsachen zu beschuldigen, doch nicht nur hatte Beth drei Zeugen, sie würde auch niemals ihr eigenes Gesicht mit einem Messer verunstalten. Dazu war sie viel zu eitel. Vielleicht hätte sie sich ein blaues Auge oder so verpasst, was wieder abklingen würde. Doch sich das Gesicht aufzuschneiden? Wenn dies bedeutete, dass sie eine Narbe davon tragen würde? Das war mehr als unwahrscheinlich. Unmöglich.
„Ihr habt mir nicht glauben wollen“, schluchzte Beth dramatisch und hielt sich die Wange, die jetzt mit Gaze und Pflaster bedeckt war. „Jetzt seht, was diese Irre mir angetan hat. Ich werde eine verdammte Narbe davon zurückbehalten.“
„Beth hat recht“, sagte Nate finster. „Wir haben den Fehler gemacht, ihre Worte nicht ernst zu nehmen, und jetzt hat sie dafür bezahlen müssen. Abby ist für zwei Wochen suspendiert und wird sich vor Gericht verantworten müssen, doch das ist nicht genug. Das Jugendgericht wird ihr wahrscheinlich ein paar Stunden gemeinnütziger Arbeit aufbrummen. Das ist keine Strafe. Wir müssen das in die Hand nehmen.“
„Was schlägst du vor?“, fragte Ian. „Ihr auch das Gesicht aufschneiden?“
Mir gefiel das sadistische Glitzern in Ians Augen nicht. Ja, Abby musste bestraft werden. Doch die Idee, ihr die Wange aufzuschlitzen, saß mir schwer im Magen. Ian war normalerweise der Netteste der KINGS. Ich hätte seine Worte als Scherz aufgefasst, wäre da nicht der Ausdruck in seinen Augen. Ich sah Nate an. Der schüttelte den Kopf.
„Nein, wir haben zwar mehr oder weniger Narrenfreiheit an der Schule, doch wenn wir das tun, werden wir nur in Schwierigkeiten geraten. – Nein, sie wird anders leiden.“ Sein Blick ging zu mir. „Du wirst das übernehmen, Kent. Sie ist dein. Dein, zu terrorisieren. Dein, zu bestrafen. Nur zwei Regeln. Regel eins: Du wirst ihr nichts antun, was uns in Schwierigkeiten bringt, also keine Wunden, keine Brüche. Regel zwei: Du wirst sie nicht ficken. Lass deinen Schwanz in der Hose. Ist das klar?“
„Keine Sorge“, knurrte ich. „Ich hab nicht vor, meinen Schwanz in ihr Loch zu stecken. Wahrscheinlich hat sie Zähne an ihrer Möse.“
Gregory lachte, und wir anderen – abgesehen von Beth – fielen in das Lachen mit ein. Nates Worte registrierten in meinem Kopf. Mein Lachen verstummte und ließ mich mit einem Grinsen zurück. Abby war mein. Mein, zu terrorisieren. Mein, zu bestrafen. Ich rieb meine Hände zusammen und meine Augen funkelten mit Begeisterung. Ich erhob mich vom Tisch und warf einen Blick in die Runde.
„Wir sehen uns“, sagte ich. „Ich hab Rachepläne zu schmieden.“
Abby
Mein erster Tagzurück an der Schule war genauso schrecklich, wie ich es mir ausgemalt hatte. Überall begegneten mir hasserfüllte Blicke und gehässiges Geflüster. Ich hatte mich zuerst im Büro der Schulleitung melden müssen und der Schulleiter hatte mir eine lange Rede gehalten. Mir klingelten noch immer die Ohren. Ich hatte nicht einmal mehr versucht, mich zu verteidigen. Niemand glaubte mir. Ich würde mir ja selbst nicht glauben. Die Vorstellung, dass Beth sich selbst entstellen könnte, war einfach zu abwegig, um glaubhaft zu sein. Und doch war es die Wahrheit. So unwahrscheinlich wie das klang.
Ich atmete tief durch, ehe ich die Tür vom Büro öffnete und in den Korridor trat. Der Flur war leer. Der Unterricht hatte bereits angefangen und ich hatte einen Zettel von Mr. Godwin, dem Schulleiter, der mein zu spät kommen entschuldigte. Ich ging schnellen Schrittes den Gang entlang auf dem Weg zu meiner ersten Unterrichtsstunde: amerikanische Geschichte. Meine Schritte hallten laut im verlassenen Gang wider. Als ich um die Ecke bog, landete plötzlich ein dunkler Sack über meinem Kopf. Ich schrie, doch eine Hand legte sich über dem Sack auf meinen Mund. Ein starker Arm hielt mich fest, sodass meine Arme nutzlos an meinem Oberkörper eingeklemmt waren. Mein Angreifer zerrte mich mit sich und ich versuchte mit aller Macht, mich zu befreien, doch vergeblich. Mein Herz schlug panisch in meiner Brust und mir war übel vor Angst. Wer war mein Angreifer? Was hatte er mit mir vor? Ich musste mir wegen dem Warum keine Gedanken machen. Ich wusste, warum. Wegen dem, was ich angeblich getan hatte. War es Nate, der mich gewaltsam mit sich schleifte? Wahrscheinlich. Er war immerhin Beth’ Freund. Es war anzunehmen, dass er die Rache für seine Freundin persönlich ausüben wollte. Ich wurde gegen eine Wand gepresst und ich hörte das Quietschen einer Tür, die geöffnet wurde. Dann zerrte mein Angreifer mich weiter. Diesmal ging es Stufen hinab. Blind wie ich war, und nicht in der Lage, mein Tempo selbst zu bestimmen, strauchelte ich. Nur der Griff meines Entführers bewahrte mich davor, die Treppe hinab zu fallen. Er zerrte mich einfach weiter. Meine Füße und Knöchel schlugen gegen die harten Betonstufen und Schmerz ließ mich aufschreien. Nicht, dass mich jemand hören könnte. Die Hand meines Angreifers war noch immer fest auf meinen Mund gepresst. Endlich waren wir unten angekommen und ich schaffte es, mehr oder weniger neben meinem Entführer her zu stolpern. Erneut wurde eine Tür geöffnet und ich wurde in den Raum geschubst. Ich ging schreiend zu Boden. Meine Knie trafen hart auf den nackten Betonboden und obwohl ich Jeans trug, schürften meine Knie auf. Ebenso meine Handflächen, als ich versuchte zu verhindern, dass ich mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlug.
„Viel Spaß im Dunkeln, Abbygirl“, sagte eine bekannte Stimme. Kent. Mein Entführer war Kent. Zweifellos handelte er im Auftrag von Nate.
„NEEEIIIIN!“, schrie ich, als ich hörte, wie die Tür zu fiel. Ich riss mir den Sack vom Kopf. Dunkelheit umgab mich. Es war absolut stockfinster. Ich wusste, dass ich mich irgendwo im Keller der Schule befand, doch in diesem verdammten Raum schien es kein Fenster zu geben. Panik schnürte mir die Kehle zu. Ich hasste Dunkelheit. Ich konnte spüren, wie sie von allen Seiten auf mich ein presste. Mein Puls jagte in schwindelerregende Höhe. „Lass mich raus! HIIIIIILFEEEEEE!“
Ich hörte ein Lachen von der anderen Seite der Tür. Kent war also noch immer da. Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht wollte er mir nur einen Schrecken einjagen und würde mich nach ein paar Minuten wieder raus lassen.
„Bitteeee!“, schrie ich flehentlich. „Lass mich raus! Bitte, Kent! Bitte, bitte! Lass mich hier raus!“
Erneut lachte er. Der Bastard genoss es, mir Angst einzujagen. Ich wünschte, ich wäre stärker, doch Dunkelheit war etwas, was ich einfach nicht ertragen konnte. Ich wollte nicht betteln. Wollte Kent nicht die Genugtuung geben, und doch tat ich genau das. Ich bettelte und flehte, nur um mehr Lachen dafür zu ernten. Meine Stimme wurde heiser von meinen Schreien. Meine Nase war verstopft von den Tränen, die ich vergoss.
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