Kostenträger : Für die Kostenträger spielt die Patientenperspektive eine gewichtige Rolle (s.o.). Darüber hinaus besteht zumindest in der Bundesrepublik Deutschland nach SGB V (Bundesministerium der Justiz: http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/) für alle gesetzlich Versicherten die Leistungspflicht seitens der gesetzlichen Krankenkassen 2, wenn eine Störung mit Krankheitswert vorliegt. Generell wird dies durch die ärztliche bzw. psychotherapeutische Vergabe einer ICD-10-Diagnose (Dilling et al., 2005) bestimmt. Dabei wurde bei der Formulierung des ICD-10, Kapitel V (für psychische Störungen), ein kriterienorientierter Ansatz gewählt, der die Diagnosevergabe auf einfach beobachtbare und explorierbare psychopathologische Zeit- und Verlaufskriterien gründet. Die meisten dieser Diagnosekriterien stellen Symptome dar (Freyberger & Stieglitz, 1996). Insbesondere stellt das ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation ein überwiegend symptom-orientiertes Klassifikationssystem dar, das auf weltweitem Konsens aufbaut (Tritt et al., 2008). In anderen Ländern ist der Umfang der Leistungspflicht von den jeweiligen gesetzlichen und versicherungsrechtlichen Bestimmungen abhängig.
Alle diese Faktoren dürften wichtige Gründe dafür sein, warum sich die Symptomerfassung im Rahmen der Diagnostik und Bewertung psychologischer Störungen derartiger Beliebtheit erfreut und vermutlich der am häufigsten erfasste Aspekt in diesem Kontext ist. Um eine Vergleichbarkeit zwischen den Patienten zu erzielen, bedarf es jedoch noch der fundierten, standardisierten Symptomerhebung, die häufig auf der Basis von psychometrischen Selbstratings durch die Betroffenen stattfindet, da dies die ökonomischste Bewertungsform ist. Entsprechend haben solche Ratings längst Eingang in die Routineversorgung gefunden (von Heymann et al., 2003; Tritt et al., 2007).
Sowohl in der Psychotherapieforschung als auch in der klinischen Routine wird häufig der Ressourcenverbrauch beklagt, der mit dem Einsatz umfangreicher psychometrischer Tests im Rahmen der Forschung sowie der gesetzlich geforderten Qualitätssicherung verbunden ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn zugleich störungsübergreifende als auch störungsspezifische Erfassungsinstrumente eingesetzt werden (Herzog, Stein & Wirsching, 2000; Kazdin, 1994). Die jeweilige Störung sollte am besten störungsspezifisch erfasst werden, z.B. bei Essstörungspatienten, sollte ein Instrument zur Erfassung der Symptomatik der Essstörung eingesetzt werden, denn es macht keinen großen Sinn, Symptomveränderungen bei einer Essstörungsbehandlung einzig beispielsweise mit einer Angst- oder Depressionsskala zu messen. Komplizierter wird die Lage, wenn man alle komorbiden psychischen Störungen evaluieren will, wofür – je nach Interesse und Fragestellung - einiges spricht: In der Regel weisen die Patienten insbesondere im stationären Bereich mehr als eine psychische Diagnose auf (z.B. bei einer größeren psychosomatischen Stichprobe (Tritt et al., 2003) wiesen die Patienten im Schnitt 2,1 F-Diagnosen auf und in einer größeren psychiatrischen Stichprobe (Härter et al., 2004) hatten die Patienten durchschnittlich 2,24 F-Diagnosen ) und je mehr komorbide F-Diagnosen die Patienten hatten, desto aufwändiger und länger war deren Behandlung in der Regel (von Heymann et al., 2003). Sich alleine auf die psychische Hauptdiagnose zu beschränken, ist nicht immer die Lösung, da der Therapieschwerpunkt während der Behandlung wechseln kann und der mit der Komorbidität verbundene erhöhte Ressourcenverbrauch nicht ausreichend berücksichtigt würde. Weiterhin ist problematisch, dass der volle Umfang psychischer Komorbidität häufig erst einige Zeit nach Beginn einer Therapie zum Vorschein kommt und eine verspätete Erfassung der Aufnahmesymptomatik die Beurteilung von therapeutisch induzierten Veränderungen verfälschen würde. Auch dürfte das Ausfüllen mehrerer Fragebögen gerade Patienten mit erhöhter Komorbidität überfordern und der organisatorische Aufwand, für jeden Patienten bei der Aufnahme ein maßgeschneidertes Paket an Fragebögen zu schnüren, scheint für den klinischen Alltag auch nicht sonderlich praktikabel zu sein. Dies dürften die Gründe für die Beliebtheit von syndromübergreifenden Fragebögen, wie z.B. der Symptom-Check-Liste -90-R sein.
Nach unseren Ausgangsüberlegungen sollte ein möglichst umfassendes, symptomübergreifendes und ressourcenschonendes Instrument für die Symptomratings durch die Betroffenen geschaffen werden, denn das Instrument sollte sich u.a. für den flächendeckenden Einsatz im Rahmen der Qualitätssicherung (Tritt et al., 2007) eignen. Im Idealfall würde man pro Syndrom mit jeweils einem Screening-Item starten. Wenn dieses Item Hinweise auf eine symptomatische Belastung liefert, könnte man im Rahmen des adaptiven Testens weitere Items zur Evaluation dieses Syndroms anschließen, um eine ausreichende Bewertung des Syndroms zu gewährleisten. Auf diese Art und Weise sollten dann alle Syndrome in der gewünschten Detailliertheit evaluiert werden. Leider ist dies einfacher gesagt als getan: Zur Umsetzung eines derartigen Vorgehens müssten Screening-Items mit ausreichender Sensibilität und Sensitivität zur Verfügung stehen. Konzeptuelle Vorüberlegungen sowie einige empirische Voruntersuchungen ergaben, dass dieser Ansatz nicht mit der angestrebten Qualität zu verwirklichen war (Zacharias, 2006). Darüber hinaus musste noch konstatiert werden, dass weder alle relevanten Syndrome noch Symptome für die Selbstratings durch Patienten geeignet sind, was ein weiteres Problem für dieses Vorgehen darstellen würde. Entsprechend dieser Einschränkungen sollte ein möglichst qualitativ hochwertiges, kurzes und ökonomisches Selbstrating-Instrument für die Symptomevaluation entwickelt werden, das sich auf die psychischen Syndrome beschränkt, die sich ausreichend gut für die Selbstbewertung eignen.
Eine weitere Überlegung bei der Konzeptualisierung des Projekts bezog sich auf die häufig geäußerten Zweifel bzgl. der Qualität der Diagnostik, sowohl bei der Routineversorgung, bei wissenschaftlichen Projekten und bei der Versorgungsforschung. Die Einführung standardisierter diagnostischer Verfahren ist als Konsequenz dieser Problematik zu nennen. Mit der Neuentwicklung des ICD-10-Symptom-Ratings (ISR) wird auch versucht, in möglichst zeit- und ressourcen-ökonomischer Form, die Brücke zwischen einer störungsübergreifenden Erfassung der psychischen Symptomatik und, wie im Folgenden noch ausgeführt wird, der Vergabe einer möglichst validen, standardisierten Diagnose zu schlagen.
Das ISR stellt den ersten Schritt eines zweistufigen Projekts dar. Die Zielsetzung des Gesamtprojekts 3musste bei der Konzeptualisierung des ISR mitberücksichtigt werden und wird zum besseren Verständnis des ISR hier kurz skizziert: Neben der engeren Zielsetzung des Instruments, der Evaluation psychischer Symptomatik für Status- und Veränderungsmessungen auf der Basis von Selbsteinschätzung durch den Patienten, hat das ISR Screening-Funktion für den zweiten Schritt des Gesamtprojekts, der eine Verbesserung der ICD-10-Diagnostik anstrebt. Auf der Basis der Ergebnisse des ISR sollen im Rahmen eines adaptiven Testens weitere Items angeboten werden, die als verfeinerte standardisierte ICD-10-Diagnostik dienen. 4Während das ISR als eigenständiges Instrument in verschiedenen Darbietungsformen (Papier-Bleistift-Version, elektronische Version mit automatisierter Auswertung) eingesetzt werden kann, wird der zweite Schritt der ICD-10-Diagnostik nur optional und ausschließlich in elektronischer Form durchgeführt werden können.
1.3 Fragebogenkonstruktion
In Einklang mit den bereits dargelegten Vorüberlegungen, ist das ISR auch für den Einsatz bei Erwachsenen und Jugendlichen im Rahmen der ambulanten und stationären Routineversorgung (Versorgungsforschung und Qualitätssicherung) gedacht. Somit besteht die Intention, ein möglichst weites Spektrum psychischer Symptomatik abzudecken. Die Konstruktion des ISR baut auf dem Kapitel V (F) des ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 1993) auf, der einen weltweit etablierten Konsens darüber darstellt, welche Symptome bei der Erfassung psychischer Störungen und für das Stellen einer Diagnose relevant sind. In der ersten Phase der Entwicklung sind die im ICD-10 erfassten Diagnosen durch ein Expertengremium zu Syndromen zusammengefasst worden. Diese Syndrome wurden anschließend danach bewertet, ob die Mehrzahl der darin enthaltenen Symptome sich für reliable, valide und wahrheitsgetreue Selbstbewertungen durch Patienten eignet. Dabei konnten die Experten bei der Bewertung der Eignung zwischen den Ausprägungen „ja“, „unentschieden“ und „nein“ wählen. Die Ergebnisse der Expertenratings sind in der Anlage I zu sichten. Alle Syndrome, die nicht fünf einheitliche Bewertungen von den Experten erhielten, wurden anschließend diskutiert. Neben drei Ausnahmen wurden für alle Syndrome, die mindestens vier Mal das Eignungsrating „ja“ erhielten, Items für das Instrument formuliert. Bei allen drei Ausnahmen („Nicht organisches Schlafstörungssyndrom“ (ICD-10 F51), „Psychische Störungen im Wochenbett“ (ICD-10 F53) und „Psychische Faktoren bei anderorts klassifizierten Störungen“ (ICD-10 F 54) fanden die Experten, dass man diese Syndrome - wegen symptomatischer Überlappungen mit anderen Syndromen bzw. wegen des für die Differentialindikationsstellung erforderlichen medizinischen Sachwissens - nicht durch eigenständige Items erfassen sollte, sondern sie den nachgeschalteten Expertenratings im zweiten Teil des Gesamtprojekts überlassen sollte. Selbstverständlich können einige ISR-Items auch erste Hinweise für diese drei Ausnahmen liefern, z.B. kann die Frage nach „Schlafstörungen“ als Anzeichen für eine Depression, aber auch für eine nichtorganische Schlafstörung betrachtet werden oder, die Items für somatoforme Störungen können auch erste Hinweise auf psychische Faktoren bei anderorts klassifizierten Störungen beinhalten.
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