„Ich sollte jetzt gehen“, überlegt Frank, „eine Stunde habe ich Vorsprung, aber zuvor muss ich die Spuren verwischen, das Seil vom Ast binden und die Eisenstange mitnehmen.“
Er sucht konzentriert am Tatort nach verräterischen Spuren, stellt abgeknickte Gräser auf, als ob hier keiner gewesen wäre, wirft kleine, trockene Zweige auf seinen Sitzplatz, vergewissert sich, dass nichts dem Zufall überlassen ist. Der Hund ist wieder in den Wald gelaufen, vermisst etwas, das er nie mehr finden wird. Der Mörder, nein, der gerechte Richter und Vollstrecker, zumindest sieht er sich so, blickt sich zum letzten Mal um. Der Himmel hat eine passende traurige Farbe angenommen. Bäume werden schwarz, das Gelände trostlos und die dunkle Teichoberfläche kräuselt sich. Die Leiche blendet er aus. Zeit zu gehen, Zeit für eine neue Zukunft.
„Ist mir jetzt gut oder schlecht?“
Der Rückweg zu seinem Auto ist ein schmaler Trampelpfad. Auf der anderen Seite des Waldes, in einem schwer einsehbaren Feldweg, hat er geparkt. Nach den ersten, eilig gegangenen Minuten wird er ruhiger, lauscht. Es regnet stärker, die Luft wirkt kühler, die Bäume noch schwärzer. Seine Sinne sind geschärft und von irgendwoher riecht er Autoabgase. Er bleibt stehen, schnuppert wie der Hund geschnuppert hat, horcht auf ein Rascheln im Laub oder das Knacken der Zweige. Dort, wo der Pfad endet, wischt für einen Augenblick ein Schatten durch eine Fichtenschonung.
Frank springt wie ein Hase mit zwei, drei Sprüngen hinter einen Baum, die Eisenstange fest umklammert, schielt mit einem Auge zur Einzäunung und presst sich an den Stamm. Er wartet voller Furcht auf eine neue Bewegung, eine Silhouette, ein verräterisches Geräusch. Als seine Geduld erschöpft ist, rappelt er sich auf, macht leise einen Bogen um die Schonung und fühlt sich erleichtert beim Anblick seines Autos. Bevor er einsteigt dreht er sich wie zufällig um, sucht aus den Augenwinkeln und kann nichts entdecken. Dennoch hat er das Gefühl beobachtet zu werden. In der Fichtenschonung knackst es.
„Stehen bleiben und abwarten oder losfahren?“, rätselt er und entschließt schnell zu verschwinden, seinen Plan weiter zu verfolgen. Und der war und ist einfach: Zuerst das restliche Vermögen in Sicherheit bringen, Rache nehmen, dann über Zwischenstationen nach Südafrika oder Namibia und mit neuer Identität nach Deutschland zurückkehren. Die ersten beiden Ziele sind erreicht, morgen nach Mombasa und der Rest wird auch gelingen.
7
Irgendetwas stimmt nicht. Frank spürt wie sich der Rücken verspannt. Sein Blick ist auf einen Mann in der Schlange vor dem Check-in-Schalter des Flughafens gerichtet. Er hat diesen vermutlich Gleichaltrigen bereits an der Café-Bar des Abflugterminals gesehen. Der ungewöhnliche Oberlippenbart war es, der ihm auffiel. Die Spitzen nach oben gezogen, wie anno Neunzehnhundert. Ansonsten normale Kleidung, Jeans, graue Jacke, alles von der Stange. Wieso hält er sein Smartphone mit beiden Händen halb verdeckt am Ohr, dann neben dem Gesicht? Es ist, als ob er nicht wirklich telefoniert, sondern fotografiert. Der Mann wirkt routiniert und selbstsicher.
„Er beobachtet mich und täuscht nur eine Versunkenheit in ein Telefongespräch vor.“ Frank hüstelt künstlich, ein Zeichen für seine Nervosität. Der Mann steckt sein Handy weg, rückt auf, holt einen kleinen Notizblock aus seiner Jackentasche und schreibt darauf.
„Eine Information über mich? Würde jemand fragen, was so merkwürdig ist, ich könnte es nicht sagen. Am besten ich beobachte ihn nicht. Wer sollte es auch sein? Polizei? Kaum, denn die hat die Leiche frühestens erst heute morgen gefunden. Oder ist es ein Gläubiger? Verdammt, bin ich froh, wenn ich in der Luft bin.“
Frank rückt vor bis zum Schalter und gibt seinen Rücksack als Sperrgepäck ab. Die junge Angestellte reserviert ihm mit einem Lächeln einen Fensterplatz und leiert die nötige Information herunter. Vor dem Zoll warten wenige Passagiere und dieser Träger eines auffälligen Schnurrbarts ist der letzte. Frank überlegt sich erst später einzureihen, runzelt die Stirn und stellt sich trotzig dahinter. Sie rücken rasch auf und der Mann ist jetzt vor dem ernsten Grenzpolizisten, spricht mit dem ihm, schaut zu Frank und spricht weiter. Beide unterhalten sich, bis der Pass zurückgereicht wird. Ein Hauch von Angst fährt ihm das Rückgrat empor. Er möchte weglaufen, aber das wäre falsch. Der Beamte winkt ihn zu sich, nimmt den Pass, blättert, gibt ihn zurück und schaut zum Nächsten.
„Wo ist dieser Mensch? Vielleicht alles nur Einbildung.“
Er durchstreift die Duty-Free-Shops. Nichts. Ein Stapel Zeitungen liegt vor ihm, mit einer auffallenden Schlagzeile auf der ersten Seite: Ostafrika boomt! Da will er hin, kauft deshalb ein Exemplar.
Letzte Nacht fraß ein Bild sein Gehirn auf, das Bild des toten Bruders im Steinbruch. Wie ein unersättliches Insekt hat es immer wieder versucht seinen Schlaf zu nehmen. Zwei Tabletten und er konnte durchschlafen. Vielleicht die Nachwirkungen heute, vielleicht eine Art Verfolgungswahn. Er ist verwirrt. Was soll er denken? Hat er den Mann tatsächlich an der Café-Bar gesehen? Oder ist die Angst vor dem Misslingen seines Plans, diese Suche nach möglichen Schwierigkeiten vor dem Abflug, zu einem Hirngespinnst geworden, zu einer Sinnestäuschung?
Endlich beginnt der Gang zum Flugzeug. Neben der Kabinentür liegen wie üblich Illustrierte für die Passagiere bereit. Im Vorbeigehen sticht ihm eine Fotografie ins Auge, das bunte Bild eines afrikanischen Wildtieres, eines Gnus. Er greift zu und ist froh, die Langeweile während des Fluges verkürzen zu können. Auf dem Platz neben ihm sitzt ein Herr mit dunkelbrauner Hautfarbe und einem gewaltigen Bauch, auf seinem Schoß liegt eine indische Zeitung. Kaum über den Wolken blättert Frank in seiner Illustrierten bis zur Rubrik „Reisen“.
Der Fotograf des dazugehörenden Artikels hat sich enorme Mühe für beeindruckende Aufnahmen Tansanias gemacht. Tiere aus der Luft und vom Jeep fotografiert, schwarze Kindergesichter, bunt bekleidete Frauen, stolze Massai.
Tansania! Da wollte er schon einmal hin, und es wäre vom Ankunftsort dieses Fluges gar nicht weit weg. Der vierzigste Geburtstag seiner Frau kommt ihm in den Sinn. Er wollte sie überraschen mit einer Safari in Kenia und Tansania und hatte ihr einen Prospekt auf den Tisch gelegt.
„Safari?“, sagte sie. „Jeden kleinen Hund begegne ich mit Argwohn, habe Angst vor Kühen und jetzt sollte ich Elefanten, Affen, Nashörner und wahrscheinlich auch diese ekligen Schlangen in freier Wildbahnen erleben. Und anschließend in einem Meer baden, voll mit Haien?“
Es wurde „Wellness“.
Frank hat gegessen und dämmert vor sich hin. Der Rücken beginnt zu schmerzen, die Knie stoßen immer öfter an, der dicke Nachbar schläft tief und fest und selber findet man keine wirkliche Ruhe. Er holt sich die mitgenommene Zeitung und schlägt den Wirtschaftsteil auf.
In seiner wirtschaftlichen Entwicklung schnitt Tansania im Vergleich der afrikanischen Länder südlich der Sahara gut ab und Baumwolle ist eines der wichtigsten Exportgüter. Alles lieb und gut, es interessiert ihn nicht, aber dann kommen Zeilen, die zum genaueren Lesen verleiten. Der Edelstein Tansanit soll wieder eine führende Rolle spielen, sobald der illegale Handel unterbrochen ist.
Tansanit!
Ein Juwelier kommt ihm in den Sinn. Die vielen Jahre der Bekanntschaft und das gemeinsame Interesse bei Wertanlagen brachte beide näher. Und was liegt bei einem Juwelier näher, als seinen Gewinn in Form von Edelsteinen aufzubewahren? Reiseschecks hat er genügend, um sich sozusagen Vorort zu günstigen Preisen einzudecken.
Natürlich, das ist es!
Eigentlich sollte das Lesen entspannen, nur die Sache ist es wert, sich damit zu beschäftigen, neue Pläne zu schmieden, alles neu zu überdenken. Ja, eine neue Tür tut sich auf, Frank ist begeistert und weiß nicht so genau warum. Er faltet die Seite, steckt sie ein, sicher ist sicher.
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