Doch nun, da der Mann entkommen war, stellten die Weiber die Verfolgung ein und kehrten zu ihren Höhlen zurück. An dem Knaben lag ihnen nichts. Er konnte unbelästigt zwei, drei Jahre im Wald herumstreichen. Entging er bis dahin den Raubtieren und den Speeren und Pfeilen des Zwergvolkes, dann war er erwachsen und bildete für jedes der Riesenweiber während der Paarungszeit eine erwünschte Beute. Für den Augenblick aber konnte er sich eines verhältnismäßig freien und unbekümmerten Daseins freuen.
Seine Aussichten, sich durchzubringen, waren allerdings durch die frühzeitige Flucht in den Wald geringer geworden. Wäre seine Mutter am Leben geblieben, dann hätte sie ihn sicher noch wenigstens ein Jahr lang auf ihrem Hof gelassen, und um diese Zeit wäre er besser den Gefahren und Nöten des wilden Lebens in Dschungel und Urwald gewachsen gewesen.
Dem Knaben verrieten seine scharfen Ohren bald, dass die Weiber die Verfolgung aufgegeben hatten. Er hielt an und sah sich nach dem fremden Geschöpf um, das ihn aus dem verhassten Zwinger befreit hatte, aber in der Dunkelheit der hereinbrechenden Waldnacht konnte man nicht weit sehen. Der Fremde ließ sich nicht blicken. Der Knabe spitzte seine großen Ohren und lauschte. Kein anderes Geräusch als die rasch sich entfernenden Fußtritte der Weiber war zu hören. Doch nunmehr erschollen andere ihm unbekannte Laute im Wald, die sein unerzogenes Gehirn mit unbestimmten Schrecknissen erfüllten. Aus dem umgebenden Unterholz kamen Geräusche, oben aus den Zweigen über seinem Kopfe klangen Töne, und zu alledem gesellten sich noch entsetzenerregende Witterungen.
Er wusste nichts von Löwen, es sei denn, dass der Instinkt eine Art Bild jener verschiedenen Geschöpfe ausmalt, vor denen die Bewohner der Wildnis gefühlsmäßig Furcht haben. Der Knabe war in seinem ganzen Leben noch nicht aus dem Zwinger herausgekommen, und da seine tote Mutter so wenig wie ihre übrigen Stammesgenossen die Gabe der Sprache besessen hatte, konnte er auch aus Erzählungen nichts von der Welt draußen wissen. Aber als der Löwe brüllte, wusste der Knabe doch, was das bedeutete.
Viertes Kapitel: Urwaldleben
Etwa einen Tagesmarsch von den Höhlen der Alalis entfernt kauerte Esteban Miranda im Dunkel eines anderen Waldes, hielt krampfhaft das Handgelenk der kleinen Uhha fest und zitterte jedes Mal, wenn das donnernde Brüllen eines Löwen durch die Dschungel scholl. Das Mädchen spürte, wie der Körper des großen Mannes neben ihr zitterte und fuhr voll Verachtung auf ihn los:
»Du bist gar nicht der Flussteufel«, rief sie. »Du hast ja Angst. Du bist nicht einmal Tarzan, denn mein Vater Khamis sagt, dass Tarzan sich vor nichts fürchte. Lass mich los, dann kann ich wenigstens auf einen Baum klettern. Nur ein Feigling oder ein Narr steht hier vor Todesangst wie gelähmt und wartet, bis ein Löwe kommt und ihn frisst. Lass mich gehen, sag' ich!«
Damit versuchte sie ihm ihr Handgelenk zu entwinden. »Halte den Mund!«, zischte er. »Willst du, dass ein Löw auf uns aufmerksam wird?«
Doch ihre Worte und ihr Zerren hatten ihn wenigstens aus seiner Erstarrung gerissen. Er bückte sich, nahm sie auf und hob sie hoch, bis sie die unteren Zweige eines Baumes erfassen konnte. Als sie dann in sichere Höhe hinaufgeklettert war, schwang er sich ihr nach.
Bald fand er auch in etwas größerer Höhe einen sicheren und bequemeren Platz, auf dem sie beide den Morgen erwarteten, während sich drunten Numa, der Löwe, eine Weile hustend und keuchend herumtrieb und dann und wann mit tiefem Brüllen die Dschungel erzittern machte.
Bei Tagesanbruch kletterten die beiden endlich, ganz erschöpft von der schlaflosen Nacht, auf den Boden hinab. Das Mädchen hätte sich gern noch länger aufgehalten in der Hoffnung, Odebes Krieger würden sie einholen. Aber was sie hoffte, das fürchtete ihr Entführer, der darum eine möglichst große Entfernung zwischen sich und den schwarzen Kannibalen-Häuptling zu bringen suchte.
Miranda ging völlig in der Irre. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er einen halbwegs brauchbaren Pfad zur Küste finden sollte, aber das kümmerte ihn im Augenblick weniger. Ihm lag nur daran, nicht wieder Odebe in die Hand zu fallen, darum wählte er die Richtung nach Norden, suchte aber stets nach den Anzeichen eines nach Westen führenden Pfades. Irgendwo hoffte er wohl auch auf ein Dorf mit freundlich gesinnten Eingeborenen zu stoßen, die ihm helfen würden, nach der Küste zu gelangen. So wanderten denn die beiden, so rasch es ging, nach Norden, wobei sie ihr Weg gerade am Ostrand des großen Dornwaldes vorbeiführte.
Die aufs Gehöft der toten Wara niederbrennende Sonne fand es alles Lebens bar. Nur der eine Knabe lag dort noch ebenso hingestreckt, wie er am Abend zuvor gefallen war. Da erschien ein schwarzer Fleck hoch oben am blauen Himmel. Er kam tiefer, wuchs und nahm die Form eines auf unbeweglichen Fittichen herabschwebenden Vogels an. Näher und näher kam er, große Kreise ziehend, bis er endlich über dem Hof schwebte. Noch einen Kreis zog er, dann stieß er im Hof auf den Boden: Ska, der Geier, war da. Keine Stunde dauerte es, da war die Leiche des Knaben von schwarzen Vögeln völlig bedeckt. Zwei Tage blieben sie, aber als sie verschwanden, lagen nur noch die sauber abgenagten Gebeine da. Doch um den Hals eines Vogels hatte sich eine goldene Kette gewickelt, von der eine diamantgeschmückte Kapsel herabhing. Ska suchte sich das Schmuckstück abzureißen, das beim Fliegen so lästig unter ihm hin und her schwang, und auch beim Laufen auf der Erde im Wege war. Aber die Kette hatte sich zweimal um seinen Hals geschlungen und ließ sich nicht losmachen; da musste er sie eben umbehalten und flog über den großen Dornwald davon, während die klaren Steine in der Sonne glänzten und funkelten.
Als Affen-Tarzan die Verfolgung der Weiber abgeschüttelt hatte, hielt er auf dem Baum an, an dem der vom Schrecken gepackte Sohn Waras lehnte. Ganz dicht über ihm befand er sich; als Numa hinzusprang, packte er den Knaben einfach beim Haar und zog ihn unbeschädigt hinauf, während die reißenden Tatzen des Löwen in die leere Luft griffen.
Am nächsten Tage befasste sich der Affenmensch ernstlich mit der Suche nach Verpflegung, Bewaffnung und Ausrüstung. Nackt und waffenlos, wie er war, wäre es ihm übel ergangen, wäre er nicht Affen-Tarzan gewesen. Auch der Alali wäre ohne den Affenmenschen schlimm dran gewesen. Früchte und Nüsse fand Tarzan, auch wohl einige Vogeleier. Aber er suchte Fleisch, darum jagte er eifrig nach Wild, nicht allein der Nahrung wegen, mehr noch, weil er die Haut, die Därme und Sehnen brauchte, um sich daraus die Gegenstände zu fertigen, die er für sein Dasein nötig hatte.
Auf der Suche nach geeigneter Beute spähte er auch nach Holz, das zu Speer, Pfeil und Bogen taugte. Das war denn auch bald genug entdeckt, aber der Tag ging fast zur Neige, bis endlich ein sanftes Lüftchen, gegen das Tarzan schritt, ihm die Witterung von Bara, dem Hirsch, zutrug.
Tarzan schwang sich auf einen Baum und bedeutete dem Alali, zu folgen, aber dieser war so täppisch und ungeschickt, dass er ihm zu einem Sitze auf den Zweigen verhelfen musste. Dort machte er ihm durch Zeichen verständlich, zu bleiben und die Sachen zu bewachen, die der Affenmensch bereits für Anfertigung von Waffen gesammelt hatte. Dann setzte Tarzan das Anpirschen allein fort.
Ob der Knabe die Anweisung verstanden hatte, war keineswegs klar, aber er folgte nicht nach, als sich Tarzan flink und geräuschlos durch die Zweige über der flüchtigen Spur des Wiederkäuers dahinschwang. Um nahe genug für Speer und Pfeil an Bara heranzukommen, muss man ein besserer Jäger mit mehr Weidmannskunst sein als der zivilisierte Mensch mit seinen verringerten natürlichen Anlagen. Selbst der Wilde verliert meist bei diesem Spiele mit Klugheit und Scharfsinn. Aber Tarzan musste ihnen beiden und der Antilope noch dazu in der Schärfe der Sinne und im Gebrauch von Verstand und Muskeln über sein, wollte er Bara allein mit den Waffen zur Strecke bringen, die ihm die Natur verliehen hatte.
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