Tredup sieht etwas wie eine ausgestreckte Hand auf sich zu ... Er macht einen ungeheuren Satz, nach dem Marktplatz hin, stößt einen Schrei aus, beginnt zu laufen.
Hinter sich hört er eiliges Schrittetrapsen, nun sind es schon zwei. Einer ruft: »Stehenbleiben oder ich schieße!«
Tredup rast.
Eine andere Stimme ruft: »Laß, Perduzke. Den kriegen wir auch so.«
»Perduzke?« denkt Tredup flüchtig. »Perduzke? Wer ist Perduzke?« Aber er muß laufen, sie kriegen ihn sonst, sie schlagen ihn sonst auf die schmerzende Stelle am Hinterkopf.
Er ist über den erleuchteten Marktplatz fortgelaufen, der jetzt, nach Mitternacht, menschenleer liegt. Dann gegenüber in die Probstenstraße.
»Das ist ein Umweg nach Haus«, denkt er. »Ach, wäre ich doch bei Elise!« Und läuft rascher.
Hinter ihm scheint jetzt nur noch einer zu sein, Tredup bekommt Hoffnung zu entrinnen, der Mann keucht so. Und ganz in der Nähe von hier sind die städtischen Anlagen, wenn er dahin kommt, da ist es dunkel, da finden sie ihn nicht.
Er schlägt einen Haken. Der Verfolger ist mindestens zwanzig Schritt hinter ihm.
Dann knirscht der Kies unter seinen Füßen. Hier ist es herrlich schwarz und Nacht, Tredup überspringt einen Rasenstreifen, wirft sich prasselnd durch ein Gebüsch, läuft ein Stück lautlos auf Gras – und sieht, während er auf der andern Seite in die Calvinstraße einbiegt, ganz hinten den Verfolger mit einer Taschenlampe suchen.
Als Tredup eine Viertelstunde später seine Wohnungstür öffnet, sitzt auf dem Stuhl an der Kommode der schwarzbärtige Dicke. Elise hockt verweint, in ihre Decke geschlagen, auf der Bettkante. Die Köpfe der Kinder zeigen sich und verschwinden wieder.
»Kommen Sie man rein, Herr Tredup«, sagt der Dicke. »Draußen ist noch einer. Jetzt hauen Sie mir nicht wieder ab. Mein Name ist Perduzke von der Kriminalpolizei. Es sollte mich wundern, wenn Herr Stuff Ihnen heute nicht von mir erzählt hätte.«
»Sie waren es doch«, fragt Tredup gespannt, »der mir vorhin bei der Grotte nachlief?«
»Ich und mein Kollege«, bestätigt Perduzke. »Meinen Kollegen scheinen Sie ja wieder losgeworden zu sein.«
»Und Sie sind es gewesen, der mir auch in den letzten Tagen nachgelaufen ist?«
»Seit vorgestern Abend.«
»Na, wenn ich das gewußt hätte«, sagt Tredup aufatmend. »Dann hätte ich mir diesen Dauerlauf erspart.«
»Na, na«, meint Perduzke ungläubig. »Das sagen Sie jetzt, wo wir Sie haben. – Jedenfalls muß ich Sie verhaften.«
»Und warum?«
»Warum? Überlegen Sie sich mal.«
»Ich weiß nichts.«
Perduzke sagt bestätigend: »Jeder stellt sich so dumm, wie er kann. Aber darüber sprechen wir dann morgen. Das sieht alles ganz anders aus, wenn man erst einmal eine Nacht in der Zelle gesessen hat.«
»Max«, flüstert Frau Tredup. »Max, wenn du etwas getan hast, vielleicht wenn du gleich gestehst, daß der Herr dich hier läßt.«
»Überlegen Sie es sich«, sagt Perduzke. »Ihre Frau ist vernünftig.«
»Nichts, Elise, sorge dich nicht. Es ist Unsinn. Aber geh morgen gleich auf das Rathaus zu Bürgermeister Gareis und sage ihm, daß ich verhaftet bin und ihn sprechen müßte.«
»Gareis? Was haben Sie mit dem Bürgermeister?«
»Also, nicht wahr, Elise, du tust es bestimmt? Nicht vergessen, nicht aufschieben, dann bin ich morgen Abend wieder bei dir.«
»Das bringt nun nicht einmal ein roter Bürgermeister fertig. Dann kommen Sie man, Herr Tredup.«
»Und dem Stuff Bescheid sagen. Nicht dem Wenk. Dem Stuff. Gute Nacht, Elise.«
»Gute Nacht, Max. Ach, Max, wie werde ich denn schlafen können ... und die Kinder ... Ach, Max.«
»Nichts. Nichts, Elise. Es ist sogar gut, daß er mich verhaftet hat. Hab ich doch wieder eine ruhige Nacht.«
»Ach, Max ...«
8
Bei Bürgermeister Gareis sitzen an einem klaren sonnigen Julinachmittag des folgenden Tages vier Herren beisammen. Durch die großen Fenster brechen Fluten fröhlichen Lichtes und beleuchten das liebenswürdige fette Gesicht des schwersten Mannes von Altholm, die beweglichen, jetzt etwas betrübten Züge von Assessor Meier, Vertreter der Regierung in Stolpe, das recht verkniffene unzufriedene Gesicht von Polizeioberst Senkpiel und die beflissen aufmerksame Miene des Polizeioberinspektors Frerksen.
Gareis sieht noch liebenswürdiger aus, lächelt noch freundlicher: »Aber, meine sehr verehrten Herren aus Stolpe, warum in aller Welt soll ich diese Bauernkundgebung verbieten?«
Und Assessor Meier, etwas gereizt: »Ich sagte Ihnen schon mehrfach: weil Zusammenstöße zu befürchten sind.«
»Bei unsern Bauern? Die denken nicht daran, tätlich zu werden.«
Assessor Meier sagt betont: »Die Bewegung Bauernschaft ist gefährlicher als KPD und NSDAP zusammen. Ich wiederhole wörtlich einen Ausspruch des Präsidenten, nicht wahr, Herr Oberst?«
Oberst Senkpiel nickt brummig: »Hier muß am Montag Schupo her.«
Gareis lächelt noch strahlender: »Doch nicht gegen meinen Willen, Herr Oberst?«
Und Assessor Meier eilig: »Was ich Ihnen vortrug, sind Wünsche des Präsidenten. Aber ich muß Sie doch auf die erhöhte Verantwortung aufmerksam machen, wenn Sie diese Wünsche außer acht lassen.«
Meier fingert in seiner Westentasche und befördert einen Zettel ans Licht: »Bei allen ...« beginnt er und schielt kurzsichtig durch sein Klemmerglas.
Der Bürgermeister lehnt sich zurück und faltet gottergeben die Hände über seinem Bauch.
»Bei allen Demonstrationen sind zwei Gesichtspunkte zu beachten: die Stimmung der Demonstrierenden und die Stimmung der Bevölkerung.
Im hier vorliegenden Falle ist die Bauernschaft entschieden erregt, wenn nicht gar aggressiv gestimmt. Ich darf an die Ochsenpfändung in Gramzow erinnern, an die Bombe in der Villa des Regierungspräsidenten.
Dieser Gefahrenmoment wird dadurch erhöht, daß die Bauernschaft kein festes Gebilde ist, sondern etwas Fließendes, Ungreifbares. Sie kennt keine eingeschriebenen Mitglieder, keine Führer.
Bei andern Demonstrationen lassen sie sich, Herr Bürgermeister, die Führer kommen. Sie besprechen mit ihnen das Nötige, vereinbaren Route, Aufmarschart, sie haben Verantwortliche. Hier nichts. Jeder ist autorisiert und keiner.
Kommt Punkt zwei: die Stimmung der Bevölkerung. Stark sind hier am Orte nur die Parteien SPD und KPD. Daß diese Leute einem Bauernaufmarsch nicht sympathisch gegenüberstehen, versteht sich. Es gibt tausend Reibungsmöglichkeiten, unabsehbare. Ein Zuruf kann eine Schlägerei entfesseln, eine Schlägerei eine Schlacht.
Sie haben hier etwa achtzig kommunale Polizeibeamte –«
»Achtundsiebzig«, sagt der Polizeioberinspektor.
»Eben. Achtundsiebzig. Zwanzig davon dürften auf Urlaub sein.«
»Einundzwanzig.«
»Schon gut, Herr Frerksen. Es kommt mir wirklich nicht auf die Einser an.«
Frerksen knickt zusammen.
»Also ... ich subtrahiere ... Wie war das doch? Ich bitte Sie, Herr Oberinspektor ... einundzwanzig weniger ...«
»Es würden siebenundfünfzig Mann zur Verfügung sein.«
»Richtig. Siebenundfünfzig. Das heißt praktisch höchstens fünfzig, denn Sie können nicht alle Verkehrsposten aufheben.«
»Nur vierzig«, sagt der Bürgermeister.
»Also vierzig. Vierzig! Herr Bürgermeister, Herr Gareis, ich bitte Sie! Da sind dreitausend, da sind ihrer viertausend, da sind vielleicht fünftausend Bauern, die demonstrieren, und in einer feindlichen Umgebung, in einer roten Stadt – Verzeihung! ich gehöre ja selbst der Partei an! –, und Sie wollen mit vierzig Mann kommunaler ungeübter Polizei ... Wenn das nicht Wahnsinn ist! Sagen Sie selbst, Herr Gareis, sagen Sie selbst!«
»Ich will Ihnen kurz und klar antworten:
Ich verbiete die Demonstration nicht!
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