Der Indian Summer verabschiedete sich und mit ihm die Touristen. Das war in den letzten Tagen offensichtlich geworden. Für den Sheriff und seine zwei Gehilfen bedeutete das, weniger Arbeit.
"Irgendwer scheint da wohl schon Langeweile zu haben", dachte Rick. Eine andere Erklärung für den Unfug auf dem Friedhof fand er bis jetzt nicht. Aber er verbot sich, voreilige Schlüsse zu ziehen:
"Erst einmal den Ort des Geschehens sehen, dann wüsste er mehr."
Ein Schatten verdunkelte seine Sicht, fast wäre er mit jemandem zusammengestoßen. Irritiert bat er um Entschuldigung. Beim Hochblicken schaute er in das grinsende Gesicht von Steve Harrison, Aprils neuem Kollegen.
"Na, Chief, noch am Träumen? Ist auch noch reichlich früh," spöttelte dieser, feixte Rick mit strahlend weißen Reklamezähnen an und schlenderte lässig weiter.
Verdutzt den Lehrer so früh unterwegs zu sehen, schaute Rick ihm sprachlos hinterher:
"Weit weg von zu Hause der Typ," wunderte sich Rick:
"Reichlich früh für einen Morgenspaziergang!"
Eine anderweitige Möglichkeit kam ihn in den Sinn. Grinsend schaute er der davoneilenden Gestalt nach, bereute augenblicklich den Blick. Unwillkürlich ertastete seine Hand den Bauch, der im Begriff stand, der Six-pack-Form ade zu sagen:
"Der Kerl besitzt die Figur eines Adonis. Genau der Typ Mann, auf den die Frauen fliegen, mit dem Otto Normalverbraucher nicht mithalten kann", seufzte der Sheriff neidisch und beschloss, heute Abend dem verwaisten Fitnesskeller einen Besuch abzustatten - einen ausgiebigen Besuch.
Das Souvenirgeschäft kam in Sichtweite, er beschleunigte seinen Schritt. Momentan verspürte er keinen Bock auf Small talk mit Jane Carter. Vorsichtshalber überquerte er die Straße, um auf der anderen Seite weitergehen, hoffte, damit der drohenden Gefahr aus dem Weg gehen.
"Guten Morgen, Sheriff", trällerte es da schon:
"Sie haben es ja so eilig, ist was passiert?"
Ertappt zuckte Rick zusammen:
"Mist, sie hatte ihn gesehen. " Rasch setzte er ein Lächeln auf, bemüht es nicht zu krampfhaft ausfallen zu lassen. Mit einem lässigen Tippen an der Krempe seines braunen Uniformhutes begrüßte er Jane Carter. Die grazile Frau, Anfang fünfzig, winkte ihm heftig zu. Ihre andere Hand umklammerte den Besen, mit dem sie kurz zuvor den Fußweg fegte. Mit ihrer Zwillingsschwester Betty betrieb Jane einen der Souvenirläden in Angeltown. Die eineiigen, unverheirateten, Zwillinge ähnelten einander frappierend. Der einzige Unterschied bestand in Bettys Leberfleck auf der rechten Wange und ihrer unbeirrbaren Suche nach einem Ehemann. Obwohl, es gab ihn schon den Kandidaten. Was hatte sie schon alles unternommen, um die Aufmerksamkeit des Küster Jason Farlow zu erregen, doch zu ihrem Verdruss wollte der Auserkorene einfach nicht anbeißen. Einfach zu widerspenstig der Kerl, fand sie.
"Guten Morgen Mrs Carter."
Rick gab sich Mühe, seiner Stimme den Klang von Ich-habe-keine-Zeit zu geben.
Bewusst ignorierte er ihre letzte Bemerkung. Bevor er nicht wusste, was auf dem Friedhof passiert war, hielt er es für sinnvoll, mit niemandem darüber zu reden:
"Entschuldigung, ich war in Gedanken."
"Das ist mir aufgefallen Sheriff. Sie scheinen keine Zeit für einen Plausch zu haben. Im Einsatz wie, hm?"
So leicht ließ Jane sich nicht abschütteln. Sie witterte spannenden Tratsch, brauchte dringend neuen Gesprächsstoff für ihre Freundinnen. Schließlich geschah nichts in der Stadt, ohne dass sie davon wusste.
"Ja, ich muss zum Friedhof, Jason wartet. Entschuldigen Sie bitte Mrs Carter. Ich würde ja gern mit ihnen plaudern, aber die Pflicht ruft:
"Ein Wort zu viel und im null Komma nichts wusste jedermann Bescheid über etwas, wovon er selbst noch keine Ahnung hatte", wusste Rick:
"Na dann, man sieht sich."
Verabschiedend, die Enttäuschung nicht verhehlend, nickte Jane dem Sheriff mit ihrem dauergewellten, blondiertem Kopf zu.
"Vielleicht habe ich nachher etwas für dich, was du weitererzählen sollst."
Rick schmunzelnd, legte einen Zahn zu.
Betty und Jane Carter
Frustriert äugte Jane die Straße hinunter, seufzte und widmete sich zwangsläufig abermals dem Fußweg. Lustlos schwang sie den Besen, nebenbei suchend umherspähend. Das Fegen diente lediglich als Vorwand, damit war sie längst fertig. Im Grunde genommen hoffte sie, dass jemand vorbeikäme, mit dem sie ein Schwätzchen halten konnte. Leider tat ihr niemand den Gefallen.
Die gelangweilte Frau fand, es wäre mal wieder Zeit, nach dem Grab der Eltern zu schauen. Unkraut jäten, war längst überfällig. Falls ihr dort Jason Farlow über den Weg lief, könnte sie ihn, ihrer Schwester zu Liebe, zum Kaffee bitten. Fraglich allerdings, ob er die Einladung annahm. Egal! Wie, um den Gedanken zu bestätigen, nickte Jane leicht mit dem Kopf. Was fand Betty bloß an diesem Kerl, fragte sie sich zum x-ten Male.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr der Einfall, zum Friedhof zu gehen. Bei der Gelegenheit erfahre ich unweigerlich, was dort vorgefallen ist, frohlockte sie und beschloss, ihr Vorhaben im Laufe des Vormittages in die Tat umzusetzen.
Auf den Besen gestützt schaute sie die Hauptstraße hinunter. Sie stutzte, runzelte verständnislos ihre Stirn. Etwas war anders! Jane überlegte, was sie störte. Sonderbar, wie die Stadt heute aussah. So eigentümlich grau. Kritisch musterte sie ihre Umgebung. Die leuchtenden Farben der bunten Häuser, sahen aus, wie von einem Grauschleier überzogen. Selbst den Menschen haftete diese Farblosigkeit an. Die paar, die schließlich aufgetauchten, hastete stumm, ohne Gruß vorbei. Das befremdete sie. Das machte man nicht mit Jane Carter! In Angeltown fand man stets Zeit für ein paar Worte.
Verblüfft starrte sie in die Ferne. Wie aus dem Nichts schlenderte eine Gestalt die Straße herunter. Wo kam die mit einem Mal her!
Trotz der langen Haare schien es sich, der Kleidung nach zu urteilen, um einen Mann zu handeln. Der Fremde wechselte auf die gegenüberliegende Straßenseite. Fahrig suchte sie in ihrem Kittelkleid nach ihrer Brille, vergeblich. Schließlich kniff sie die Augen zusammen, versuchte, die Gestalt dadurch deutlicher zu erkennen. Sie kannte ihn nicht, sah ihn noch nie zuvor.
Was mag der hier wollen, die Ferienzeit ist doch vorbei. Der Mann blieb stehen, sah allem Anschein nach suchend umher. Vielleicht kann ich ihm ja behilflich sein, ihn eventuell ein wenig aushorchen, frohlockte Betty. Endlich würde sie zu neuem Gesprächsstoff kommen! Erwartungsvoll sah sie der Gestalt entgegen. Jetzt befand er sich auf gleicher Höhe mit ihr, schaute zu ihr herüber. Strahlend lächelte sie ihn an, das typische Bild einer netten älteren Kleinstadtfrau.
"Kann ich Ihnen helfen?" bot sie beflissen an.
Der Fremde starrte sie an, sagte kein Wort. Seine abweisende Aura ließ Jane schaudern. Sie wandte ihren Blick ab, traute sich nicht, weiter in diese kalten Augen zu schauen. Sie fürchtete, darin etwas zu erkennen, was sie nicht sehen wollte.
Bekommen eilte sie zurück in den Laden, stellte den Besen geräuschvoll in eine Ecke. Überrascht hielt ihre Schwester Betty beim Staubwischen der Verkaufstheke inne:
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