Die Einwohner des Ortes verehrten seine Großmutter, da sie allerhand über die Natur, deren Geheimnisse und Heilkräfte wusste. Oft baten sie Mary um Hilfe. Manche bezeichneten sie liebevoll als ihre Kräuterhexe.
Der schrille Ton des Telefons störte die morgendliche Stille. Das Ehepaar zuckte zusammen. Auf der Stelle eilte April zum Apparat, bevor das Geläut die Kinder weckte. Auf den Weg dorthin stöhnte sie, wünschte sich noch ein bisschen Ruhe, ehe die Hektik des Tages losging:
"Es ist für dich."
"So früh ... na das kann nur eines bedeuten."
Aufmerksam lauschte Rick dem aufgeregten Anrufer. Im Zeitlupentempo legte er das Telefon zurück in die Aufladestation, verharrte einen Moment und wandte sich schließlich mit einem deutlichen Fragezeichen im Gesicht um. Fahrig fuhr er mit beiden Händen durch sein schwarzes, kurzgeschnittenes Haar. Stockend, mit den Gedanken beim Telefonat, erklärte er:
er fort:
"Auf dem Friedhof haben irgendwelche Idioten Grabsteine umgeworfen und anderen Quatsch. Ich muss gleich los."
April bekam einen raschen Kuss, bevor Rick Richtung Hausflur hastete. Noch ehe er die Haustür erreichte, rief sie lachend:
"So!! Vielleicht solltest du erst einmal duschen und dir was Anständiges anziehen Chief. Das macht sich besser."
Der Hüter des Gesetztes grinste verlegen:
"Auch wieder wahr. Was bist du doch für eine kluge Frau."
"Nur gut, wenn du das ab und zu einsiehst, mein Liebster."
Die Kinder
Verabschiedend winkte April Rick vom Küchenfenster zu, eilte dann umgehend zur Kaffeemaschine, um ihre Tasse aufzufüllen.
"Ein paar Minuten noch, bitte."
Sie schaffte genau vier, da hörte sie Norman und Linny von oben. Sie lauschte:
"Gut, sie toben im Badezimmer. Da habe ich noch eine Galgenfrist."
Den lebhaften Stimmen nach schienen die Kinder zu streiten. Morgens fehlte ihr dafür einfach noch die Geduld. Erfreulicherweise begann ihr Dienst heute erst zur dritten Stunde, Zeit, den Tag entspannt zu starten. Steve Harrison, der neue Kollege, erteilte vorher Sport.
Grübelnd runzelte sie die Stirn, als sie an den Lehrer dachte. Seit knapp sechs Wochen unterstützte er sie jetzt. Sie war froh über seine Hilfe, wurde gleichwohl einfach nicht warm mit ihm. Bisher kannte sie Probleme in dieser Richtung nicht. Ihr aufgeschlossenes Naturell nahm jeden sofort für sie ein.
Unaufhaltsam rückten die Geräusche der lärmenden Kinder näher. Schon hörte sie die Beiden die Treppe hinunter poltern und beschloss, die Ohren auf Durchzug zu stellen. Ergeben seufzend stand sie auf, um die Schalen mit den Cornflakes zu füllen.
Ihre Tochter stieß die Küchentür auf und brüllte:
"Mama, Norman will Halloween als Cowboy gehen. Wie doof ist das denn! Cowboys sind doch kein bisschen gruselig!"
April verzog ihr Gesicht ob dieser lautstarken morgendlichen Begrüßung.
"Denn eben als Sheriff!" maulte ihr Bruder nicht ganz so laut, aber laut genug.
"Ein Sheriff ist auch nicht gespenstisch. Schließlich muss er die Leute beschützen und dafür sorgen, dass niemand etwas Schlimmes tut. Oder findest du Dad vielleicht unheimlich."
"Nö, Dad ist der beste Sheriff der ganzen Welt."
"Genau! Halloween ist das Fest der Hexen, Gespenster und Geister. Und als so was musst du dich verkleiden. Du musst ordentlich gruselig sein, damit die Anderen Angst vor dir haben, sonst bekommst du nichts Süßes."
Ihr Bruder zog einen Flunsch.
"Kinder hört auf zu streiten. Bis dahin dauert es noch eine Weile. Da finden wir garantiert das Richtige für Norman."
Ihr Sohn strahlte sie an. Zufrieden machte er sich über die Schale mit den Schoko-Pops her.
"Hmm", Linny zuckte ihre Schulter, griff ebenfalls zum Löffel, krauste die Stirn und bemerkte dann altklug:
"Wenn du meinst, Mum, obwohl ich glaube, Normans Ideen dürften diesbezüglich ziemlich eingeschränkt sein."
Ihre Mutter verdrehte genervt die Augen, verzichtete jedoch auf eine Antwort. Wortlos packte sie die Lunchboxen, gab zuletzt Obst hinein und legte sie den Kindern auf den Tisch:
"Bitte geleert zurückbringen. Langsam wird es Zeit. Seht zu, dass ihr fertig werdet."
Lustlos standen die Angetriebenen auf. Halbherzig zockelten sie die Treppe hinauf.
"Ein bisschen dalli und Zähne putzen nicht vergessen", rief April hinterher.
Es währte nicht lange und die Kinder stürmten wieder herunter.
"Das ging aber schnell."
"Wir haben vorhin schon gründlich," konterte Linny, die genau wusste, was ihre Mutter meinte, und rannte aus der Haustür. Ihr Bruder, mit dem Rucksack kämpfend, folgte ihr nicht weniger eilig.
Nach den ersten hastigen Schritten verlangsamten die Kinder das Tempo. Missmutig schlenderten sie Richtung Schule.
"Am liebsten würde ich gar nicht hingehen", maulte Norman, der die erste Klasse besuchte.
"Ich auch nicht und dann noch Sport!"
Schweigend trotteten sie nebeneinander her.
Unsicher meinte Norman:
"Die Kinder sind in letzter Zeit anders. Irgendwie seltsam!"
Schüchtern schaute er Linny von der Seite an.
Bestätigend nickte sie mit dem Kopf:
"Ja, finde ich auch. Alles macht gar keinen Spaß mehr."
Norman staunte:
"Wenn seine Schwester das sagte, wo sie so gerne in die Schule ging!
"Sollen wir einfach nicht hingehen?" Fragte er zaghaft.
"Ne, das können wir nicht machen."
Linny fasste ihren Bruder bei der Hand. Verdattert schaute er zu ihr auf. Das tat sie sonst nie. Gemeinsam durchschritten sie das Schultor, von wo sie direkt auf den Schulhof gelangten. Dort tobte bereits etliche Schüler. Sofort kamen die Freunde auf sie zu gestürmt, drängten die Klassenkameraden lebhaft zu den jeweiligen Gruppen. Norman, unschlüssig darüber mitzugehen, fügte sich nach kurzem Hin-und-her-Schwanken dem Druck der Schulfreunde.
"Wir spielen Gummi-Twist", rief Shirley, Linnys Tischnachbarin."
"Oh toll, da mache ich mit!"
Linny war gut in dem Springspiel, gewann oft. Die Reihe war an sie. Geschickt sprang sie mit dem Gummiband in die Grätsche und zurück. Um ein Haar stürzte sie, da sie sich irgendwie verhedderte. Das passierte ihr sonst nie. Gerade noch konnte sie den Sturz verhindern. Die Anderen kicherten schadenfroh. Am liebsten hätte sie die Freundinnen angefahren, riss sich jedoch zusammen, zuckte lediglich nur lässig mit den Schultern und tat den Beinahe-Sturz so als unwichtig ab.
Neidisch schaute sie zu, wie Shirley einen Sprung nach dem nächsten meisterte. Eine andere, unangenehme Regung lenkte sie ab. In ihrem Rücken kribbeln es eigenartig. Das ungute Gefühl nahm zu.
"Jemand beobachtet mich", spürte sie:
"Wahrscheinlich amüsierte sich einer der Schüler immer noch über mein Missgeschick."
Kälte fächerte Linnys Haut. Ein eisiger Finger strich ihre Wirbelsäule entlang. Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper. Furcht wallte in ihr auf. Es fühlte sich genau so an, wie gestern Nacht in Normans Zimmer. Beklommen wandte sie sich um.
Ein Unbekannter, durchweg in Schwarz gekleidet stand dort am Zaun. Dürre Hände mit viel zu langen, spitzen Fingernägeln umklammerten den Maschendraht. Unheimliche Augen starrte sie an. Selbst aus dieser Entfernung nahm Linny den funkelnden Blick wahr.
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