„Oma, ich hab mein Buch ver-“
„Gib Ruhe!“
Weiter vorne versammelten sich MG, Förster und Würmchen mit ein paar Unbekannten und einem länglichen, schwarz behangenen Wichtigtuer. Der hielt seine Handflächen den Zuschauern hin. Jakop krallte in das Kleid der großen O hinein und beruhigte sich nicht.
„Was passiert da jetzt, warum stehen die so doof rum? Warum haben die ein Kissen dabei?“
Das Kissen sei unsere Schwester, antwortete die große O, das sei der Täufling.
„Ist sie kein Mädchen mehr?“
Das nenne man nur so.
„Ich will aber auch Teufling sein, Oma!“
Er sei doch schon längst einer gewesen, heute werde das Würmchen auf einen Namen getauft.
„TAU FRISCH“, brüllte Jakop. „Wer gibt denn dem Teufel seinen Namen, Oma?“
Na, seine Eltern.
„Und Oma, wer hat dem Gott seinen lieben Namen gegeben?“
Einige Reihen vor uns drehte sich ein Junge nach Jakops Gezeter um. Ich kannte ihn vom Sehen, aus dem Schulbus – dort saß er immer allein, weil er sitzengeblieben war. Dummheit sei nämlich ansteckend, klönten die Clowns und fleißigen Denunzianten, namentlich die anderen Kinder. Sie impften sich gegen seine Dummheit, spielten Ticken – tick du bist – und gaben sich dabei seine Krankheit ab oder impften sich dagegen. Sie setzten ihn auch unter Kugelbeschuss, aus Klopapier gemischt mit Kinderspucke. Manchmal hatte ich ihn dabei angeschaut. Seine Klamotten stanken nach Passivrauch. „Ist deine Mutter ein Hase, sag mal, ein Karnickel, hat dein Vater mit den Kaninchen gebumst? Sag schon, Tick du bist! Tick, geimpft.“ So bespuckten sie den „kranken“ Jungen im Stadtgebiet Durenbuschen und ich fand faszinierend, dass ich nichts darüber wusste, über die dicke Lippe, die er riskierte, und wie er nichts dabei zu spüren schien, wenn die Kinder ihn spüren ließen, dass seine Lippe geteilt war. Sie hatten den Jungen auf den Namen Hasenscharte getauft. Namen gaben die anderen, tragen durfte man selbst.
Aber zurück zur Taufe. Einige Meter weiter vorne stand jetzt der schwarz gekleidete Showmaster Pastor Pfarrer und pries einen dezent angedeuteten Herrn vom überdimensionalen Christus am Kreuz auf die zahnlose Schwester drauf.
„Wie heißt das Kind?“
Lena.
„Ich taufe dich auf den Namen Lena, im Namen des Vaters!“ Er tauchte das Mädchen mit der Stoßhand eines schlachtenden Hirten in den Bottich. Jakop beurteilte das mit halbstarkem Applaus: „Die weint ja, die will das überhaupt nicht! HAHAHA!“ Derweil wunderte ich mich, dass die klassenkameradschaftlichen Höllenfeuerer mit ihren Spuckebällchen zahm wie Teelichter waren, zwischen all den sündhaft schwitzenden Vorzeigegläubigen. Im Hause Gottes macht der Raum betreten, nicht der Eintretende den Raum. Hasenscharte glotzte mich jedenfalls an, dass es mir kalt den Rücken runtertriefte.
„Was heißt es, Kind sein?“
Lena!
„Ich taufe sie: auf den Namen: Lena, im: Namen des: Sohnes!“ Der arisch-pathetische Pastor übergoss ebenso arhythmisch wie er sprach das sensible Köpfchen, rigoros, mit großen Schaufelhänden, er überschüttete die heulende Fee, er flutete aus dem Becken auch noch die letzten flüssigen Inhalte über die ärmlich behaarte Babystirn. Fantastisch beschleunigte Jakop sein Klatschen, um einige Zuschauer damit anzustecken, „Gleich fällt der Kopf ab, wie geil!“ Gegen diesen Charmebolzen half keine Impfung mehr. Einige Teenager beömmelten sich schadenfröhlich über diesen inkorrekten Knirps und ich fragte mich, ob Hasenscharte sich inwendig unverwendbar fühlen mochte oder menschlich, wegen des Zufalls, welchen ihm der liebliche Gott hatte zuteil werden lassen, direkt ins Gesicht: Anders zu sein. In mir schlummerte da auch etwas, aber ich hatte noch keine Sprache dafür.
„Was verheißt dieses Kind? Lena? Ich taufe den Namen Lena auf dich obendrauf, im Namen des Heiligen Geistes!“ An seiner Toleranzgrenze angekommen, besprengte der Vollstrecker im Talar die müdegeheulte Würmin mit den übrigen Tropfen Kaltwasser. Es war vollbracht.
„JAA, WEG MIT IHR IN DEN MÜLLSCHREDDER!“ Mehr brauchte niemand zu sehen. Ekstatisch empfing Jakop, der nun auf der Bank stand, die Erlösung, die Heilung durch Wurmtod, das Ende seiner Verbannung aus dem Muttergarten Paradies. Und ich lachte vor Angst ein wenig und weinte vor Verlegenheit, versuchte ihn am Hosenbein wieder runterzuziehen. Er bestärkte nickend das schöne Glück dieser Welt. Lieb und göttlich fasste er meine Hand, hob damit seine eigene Hand wie die eines Champions, glich sich selbst wie kein anderer, brach durch die Fans, „Hallihallo, ihr Otzen“, die sich zu beiden Seiten auftaten vor ihm, passierte die Bänke, sprintete aus dem Gebäude, ohne Autogramme anzukreuzen, mich wie ein abwinkendes Taschentuch hinter sich her lüftend, großartig. Er sei endlich frei, krachte er ins Wolkengrau hinauf. Endlich sei er wieder da, zwitscherten die Vögel irrwitzig. Ein einsames Eichhorn winkte ihm zu. Und weil ich danebenstand, alles mit angesehen hatte, was er sich gerade einbildete, weil ich wusste, dass die Würmin wie zuvor im Arm der MG rumlag, beschloss ich, mit dem Leben abzuschließen, so fest hielt er meine Hand.
Es hatte aufgehört zu regnen und aus dem Kirchentor hinter uns schritt zunächst einiges an unbekannten Gemeindegestalten. Dann Hasenscharte, gefolgt von einem Schwarm frühreifer Plagegeister, die ihn direkt im Freien sofort wieder ins Visier nahmen. Ohne Vorwarnung blieb er stehen und sah statt seinen Peinigern mir direkt in die Augen.
„Du kommst auch noch dran“, prognostizierte er, drehte ab und gemeinsam rutschten er und seine Folterer allesamt durch einen Sog, oder eine Einfahrt, nach links unten. Dann trat die große O auf den Plan, unsere Oma, ihre Großhände schüttelten dankend den weichlichen Pastor persönlich, eine mächtige Ehre wurde ihr zuteil, Gottesnähe. Dann beugte sie sich mit Glubschaugen zu dem kleinen Goldkopp und verkündete ihm: „Du bist ein ungehobelter Beelzebub, der liebe Gott wird dich dafür bestrafen, ehe die Kleine sprechen kann, ich prophezei’s dir.“
„Welche Kleine“, fragte Jakop ängstlich.
Verflucht solle er sein, der Bengel, verflucht, dass er nicht die heilige Taufe, nicht seine eigene Mutter, nicht irgendetwas respektiere! Verflucht, er, alle beide, das könnt’s ja wohl nicht sein! Der Pastor nickte lächelnd und die beiden verschütteten sich auch in die Böschung nach links unten, gerade als ich der Oma eine hauen wollte, weil sie so dreist mit Jakop sprach. Er brabbelte nur: „Welche Kleine?“
Aus dem Gebäude trat da eine Frau, sie hieß Magda und trug eine Last. Aber was genau hielt sie in ihren gefeilten Nägeln? Ein Kind. Das elende Kind. Die Würmin. Die liebliche Blutsschwester Lena. Jakop blieb der Anblick einen Moment im Halse stecken. So lange, bis die MG beleidigt in das Auto umgestiegen war und ihn mit hineinbat. Es gebe gleich Essen und die Gäste uns dann den Rest. Er solle sich beeilen, Vati holt schon mal den Gürtel raus. Und: selber schuld.
Erledigt schluchzte Prinz Goldgott am Montag danach in den offenen Hemdkragen des Busfahrers, um sich irgendwie wo angenommen zu fühlen. Herbert setzte sich diesen jungen Mann auf seinen Schoß und wog ihn beschwichtigend auf und ab. Jakop könne immer zu ihm kommen, das wisse er hoffentlich, dass dort immer ein Platz und Bettchen für jemanden wie ihn sei, oder? Ein Bettchen? Ein Platz? Ja, das wisse er.
„Na gut“, sagte Herbert geschäftig, hier sei die Telefonnummer und Adresse, er schreibe es jetzt auf, und wenn es wieder ein Problemchen gebe, wisse Jakop Bescheid. Ja, wisse er, okay. Tränen wurden getrocknet, Herzen geflickt fürs Erste und ich saß nur daneben, konnt’s nicht glauben, aber hielt meinen Mund.
In der Klasse versank Jakop fortan auf seinem Stühlchen. Die Haare knittrig wie altes Lametta nach eskalierter Familienweihnacht. Sein Wille welkte dahin. Er war trotz Herberts Liebe entwurzelt, furztrocken.
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