„Hoffnung“, sprach und schrieb Melissa in der Fünfminutenpause an die Tafel, als Rebe-Scheelke, wie immer in Türkis gekleidet, klipp und klar das Klassenzimmer betrat. Überdrüssig prellte sie ihre Mappe gegen den Tisch, begann alles, was Melissa als ihren Wochenendbericht bezeichnet hatte, von der Täfelung zu scheuern.
Melissa: Aber!
Rebe-Scheelke: Klasse.
Sie stand vor der Tafel, leise, privat. Ich mochte das. Rebe-Scheelke hatte dieses Jenseitige an sich, das ergriff mich. Besonnen hielt sie sich mit einer Hand den Ellenbogen des anderen Arms, als hätte sie sich gestoßen. Langsam sahen alle Dorfkinder auf. In der engen Klassenkammer wurde es ganz dunkel, weil draußen nix mehr war an Einsicht zum Raum erhellen.
„Ich entschuldige mich für gar nichts mehr“, sie sagte es wie zu einem Publikum, „ich werde nicht mehr eure Lehrerin sein. Mann hat mir die Lehrerlaubnis entzogen, weil ich Mädchen neben Jungen gesetzt habe, oder was auch immer der offizielle Vorwand ist. Die unterstellen mir, eine Frühsexualisierung zu befördern!“
Melissa flüsternd: „Eine was?“
„Dabei teilen die doch alle in zwei Lager!“ Frau Rebe-Scheelke wandte sich zur Tür.
„Und weil ich ein Dazwischen angesprochen habe, ein Jenseits von“, ja, dachte ich, ja, erzähl mehr davon!, aber sie fuhr eisern fort, „lasst das nicht mit euch machen!“ Sie, türkis, im schwarzen Rechteck des Ausgangs mit dem Rücken zu uns: „Die Männer denken, sie wär’n das Einzige unter der Sonne, und einige protestierende, sogenannte rechte Damen denken, dass sie ohne Männer nichts wär’n! Oder mit ihnen auch welche werden. Unterschriften gesammelt! Peinlich. Peinlich!“ Sie drehte sich zu uns um: „Die haben Angst. Angst wovor denn?!“ Rebe-Scheelke drehte den Kopf wie eine Eule.
„Fürchtet nur eure Furcht, ihr Stöpsel. Lacht kaputt, was euch kaputt macht“, sie seufzte, „dieser Job, dieser Chef, dieser Direktor Rattinger! Da geh ich lieber wieder Fasane züchten.“ Darauf hob sie abtrünnig den Scheitel zur Decke, merkte, zu wem sie da sprach, pustete losgelassene Haarsträhnen aus dem schweißfeuchten Profil. Vor Scham glühte ihre Aura, oder war es Ironie, so was wie Humor? Sie sagte, ohne jegliches Verspüren in der Stimme: „Geht nach Hause“, sie lächelte, „wer immer das ist.“ Dann verließ sie den Raum.
Und Jakop hob langsam den Kopf vom Tisch. Er flüsterte rachsüchtig: „Mach kaputt, was dich kaputtlacht.“ Er hatte sie falsch verstanden, dachte ich und machte mir nichts draus. Aber sieben Tage nach Rebe-Scheelkes Abgang verübte Jakop den Mordanschlag auf unsere Schwester.
Am 1. April 1998, einen Tag vor unserem Geburtstag, schob er einen Stuhl an den Herd, um behilflich zu sein. Das Telefon hatte geklingelt, seine MG drauf und dran am Apparat. Während wir „kurz aufpassten“, zerrührte Jakop sein Leibgericht mit dem längsten Löffel. Ich hielt Lena an ihren beiden Speckhändchen. Sie war gar nicht so übel, eher eine Art fröhliche Wärmflasche. Hämisch vorm Topf winkte der Fachmann mich rüber, „SCHNELL, SCHNELL, nimm den Löffel, rühr die Linsen, rühr sie gut,“ sagte Jakop. Wir tauschten Plätze, weil ich es zuließ. Dann humpelte der Spitzbube, der mein Bruder war, wie Rumpelstilzchen um sein eigenes Feuer, gab sich seiner seelischen Entzündung hin. Weil ich es zuließ, hatte ein sechsjähriger Tathergang freie Fahrt. Er pirschte sich an Lena ran, weil der Mensch auch ein Tier ist und eben pirschen kann. Ich wollte es alles nicht wissen. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen, aber ich war offen für alles, außer diesen Herrscher zu missen. Seine eigene Schwester hob er erzfeindlich empor. Zum ersten Mal berührte er sie und Lena fiel mir nichts, dir nichts in einen Schlaf, den er ihr einflüsterte, den er ihr wirklich einflüsterte, mit seiner STIMME, den er ihr irgendwie einflüsterte, das schwöre ich bei meiner Beobachtungsgabe. Mit einem leichten Geräusch rutschte das holde Gewürm in sein rotes Rucksäckchen hinein. Jakop zurrte die Schnur zu. Der Wichtel lachte vernichtelnd und sprach: „Rühr, bis ich wiederkomme, HÖR NICHT EHER AUF!“
„Was machst du?“, fragte ich bissig, weil ich’s wusste, bevor er durch die Hintertür vollends entwischte. Er gackerte in eine grauenhafte Ferne, in die er hineinverschwand wie ein kleiner Troll. Also rührte ich seine Linsen. Es duftete arg toll, weil ich meinen tollkühnen Kopf voll über die braune Brühe hielt. Bei so einem dummfarbenen Duft konnte mensch sowieso nicht denken. Ich wollte mich ablenken, oder mal kosten, vielleicht mich ertränken. Extrem viel blieb ja nicht, wenn ich extrem peinlich mit Jakop mithalten wollte, sein sollte wie er, der Sonnenschein, der soeben unsere Schwester entführt hatte. Was der sich jetzt wohl aus ihrem Leben machte? Ich rührte sein Linsengericht und wurde Komplize, obwohl ich wusste, dass es falsch war. Ich sagte so gar nichts, obwohl ich wusste, dass es falsch war. Ich hielt ihm den Rücken frei, obwohl ich wusste, dass er falsch war. Fragte mich, wie lange es dauern würde. Ob ich den Tisch decken sollte. Er würde sicher schrecklichen Hunger mitbringen von seiner Tortur. Plötzlich wurde mir klar, dass ich ihm niemals mehr entkommen würde, wenn nicht jetzt. Wenn ich nicht jetzt in diesem Augenblick meinen eigenen Mund aufmachte. Aber wie sollte ich ohne ihn eine Entscheidung treffen? Wie denn, wenn, scheiße, wenn, ich keine Scheibe von ihm abhatte, oder keine Goldlöckchen, wie Rebe-Scheelke sie toll gefunden hatte? Ich rührte im Kreis.
Jakops MutterGottes beendete das Gespräch und crashte meinen innersten Monolog, als sie eintrat. Zunächst musste sie sich orientieren an dem, was rührte. Zwei fehlten. Ich schwieg. „Da fehlen doch zwei.“
Ich schwieg und schwieg zweimal. Sie zog meinen Kopf aus dem Dampf und stellte die Herdplatte auf Null. Sie sah mir in die Augen. Warum hatte ich das vorher nie erfahren? Ihre Augen rauchten dieselbe strangulierende Taktik aus wie seine. Unter Augen wurde ich biegsam, da krachte ich. Wehr dich, dachte ich. Sie will dich ruinieren. Du musst seine Verschwörung mittragen, dann hast du ihn, dann gehört er dir, dann wirst du so perfekt wie alle ihn finden, endlich gesehen, als Berserker, heute noch, von ihm, noch heute wird er dich lieben wie sein echtes Spiegelbild, einen wahren Zwilling. Die Mutti ließ das so stehen. Sie rief durch die Küche, durch das Haus, zog mich mit hinaus, suchte im Garten, weckte die Nachbarin Tante Gretel auf, die habe nichts gesehen, habe sich erst vor Kurzem dort hingesetzt. Hektisch packte Mutter Magda meinen Körper, denn es waren schon Hunderte Minuten vergangen, Tausende Sekunden, als Jakop, stolz wie töricht, aus der Küche lugte, die Mahlzeit sei angerichtet, der Tisch sei gedeckt. Magdas Aufmerksamkeit hastete aus einer emotionalen Prärie auf die Mitte seiner fleischlichen Vertäfelung. Ihre Augen stachen in ihn ein ohne Liebe. All ihr Schimpfen ließ er so zu, nur reden wollte er nicht. Er grinste bloß und grinste mehr, bis sie uns ohne Essen ins Bett schickte, Licht aus, die Tür schloss. Draußen schrie sie nach dem Kinde. Auweia. Jakop saß vor mir, ein wunderschöner Erdenkloß mit Odem drin. Und ich traute mich geradeso zu fragen: „Jakop, was hast du getan?“
Er grinste, er habe sie so gerngehabt. Er habe sie gefressen.
Ich berührte sein Bäuchlein, zu tasten, ob Steine drin waren, und er ließ mich. Jakop heulte wie ein Wolf, aber ganz leise. Und ich fragte: „Wo ist sie?“ Er grinste weiter. Irrsinnig. Er lachte. Er war so glücklich. Sein Mund riss wie ein Sack Reis und heraus rieselten seine messerscharfen Erfolgsrezepte als blitzende Lacher. Er konnte es einfach nicht für sich behalten.
„Auf dem Hexenberg ist sie, AUF DEM VULKAN. Da soll sie VERHUNGERN.“
Unten knallte die Tür. Der Förster kam lausig die Treppe heraufgezaust, riss der Tür den Türrahmen ab, genervt von uns allen, ruppig. Er erntete mich von Jakop ab. Ich sei der schlimmste im Kreis der Familie, wenn ich schweige, sagte Förster, hob die Hand gegen mich und ich ringelte wie ein Wurm unterm Hagel mich ein. Wir kannten das schon, aber blöd war’s trotzdem. Försters Bart war furchtbar dicht, wie eine Wolke aus Borsten, eine graue Wolke von oben, mit Regen aus Händen, aus flachem Zement. Da verriet ich mein Ideal. Konnte nur auf das Waldhaus deuten. Hände warfen mich zurück und Jakop staunte nicht schlecht, als er mich aufpäppelte. Ich hatte ihn also verraten?
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