„Klar“, winkte Jakop ab, er sei ja nicht von gestern.
„Gut“, lächelte Herbert, vor denen solle Jakop sich in Acht nehmen.
„Im Märchen“, erwiderte Jakop, „fressen die Wölfe doch nur die Mädchen.“
„Echte Werwölfe fressen auch Jungs, die fressen oder schlimmstenfalls beißen sie dich in deinen Kopf, und du wirst selbst einer.“
Jakop knirschte angespannt mit den Zähnen. Ich hielt Herbert zwar für derbst dämlich, aber seine sagenhafte Angstmache knallte trotzdem. Ob man nichts dagegen machen könne, fragte Jakop und schaute sich im leeren Bus um, als hätte er eigentlich fragen wollen, ob die Werwölfe hier mitfahren würden. Man könne sich, sofern man gebissen worden sei, dagegen entscheiden, einer zu werden, stammelte Herbert sichtlich in Verlegenheit und mit seinem metaphorischen Latein am Ende. Dagegen entscheiden verstand Jakop nicht, da er eben mehr ein Körper- als ein Kopfmensch war, und meinte, er wolle dann besser ein Wolf sein, sonst würde er doch gefressen, und Wölfe brauchten vor Wölfen bestimmt keine Angst haben. Herbert schritt ein: Es sei sehr kompliziert. Die meisten verstehen nicht, warum sich einer fürs Wolfsein entscheidet.
„Du müsstest ja andere fressen, Jakop, und beißen, nein also, außerdem hast du ja jetzt auch eine kleine Schwester, die braucht doch ein Vorbild, jemanden, der sie beschützt. Du möchtest doch nicht, dass die einmal gefressen wird, oder? Die hast du doch bestimmt furchtbar gern!“
Die Furchtbarkeit krachte wie eine alte Eiche ins Dach dieses Gesprächs und Jakop bellte, heulte Herberts Mondgesicht an vor Liebe zu seiner Schwester. Lieber auf zu neuen Bergen dann, beschwichtigte Herbert, um den plötzlichen Blutdurst von Jakops Visage zu waschen. Spielerisch zauberte er eine Einwegkamera aus seiner weiten Hose und fuchtelte damit herum, als ob es Gold oder etwas Wertvolles wäre. Alle Wutausbrüche vermochte ein kleines Aufmerksamkeits-Doping von Erwachsenen wegzublasen. Jakop zog sein Hemdchen gern aus. Sein wichtigstes Grimm-Nachschlagewerk ging dabei in meine Hände über, ohne dass der Junkie es mitbekam. Ich tat nicht bloß so, als sei ich eingeschnappt. Blätterte aggressiv in grimmen Schauermärchen nach Busfahrern, nach Herberts Augen, Ohren, Zähnen. Und nein, danke, ich wollte mich nicht fotografieren lassen! Ich wollte selber Aufmerksamkeit, und zwar die von Jakop, doch in mir schlummerte mehr Kopf als Körper und so traute ich mich nie, so viel Raum zu nehmen, etwas einzufordern, wie er. Stattdessen suchte ich nach Wolfsbildern, die ihm das zeigten, was ich sah, wenn ich in Herberts Gesellschaft lieber wegschaute und meine Jacke enger zog.
Meine Schuld war es allerdings nicht, dass bald Gerüchte umgingen, und Jakop war wohl auch nicht gemeint, als an der Bushaltestelle im Dorf von Vorfällen geredet wurde. Passt auf die Kinder auf! Förster, der sehr verantwortlich war – also immer abwesend –, verbot uns in der Dunkelheit des Herbstes den Wald. So suchte Jakop, der über das Aufsteigen eines Busfahrersterns an seinem Firmament schwieg, sich einen neuen Höhenzug aus. Den Nachbarhof neben unserm Haus.
Dieser neue Berg bestand aus zwei großen Scheunen, die sich am Ende des Gartenzauns trafen. Während unsere Mutter sich nun mühte, sich täglich mehr in ihren neugeborenen Leibling einzuverlieben, dabei immer noch keinen passenden Namen gefunden hatte, weil sie nach der Geburt ihre Freude am Leben wohl etwas verlor, und der Förster im Nachbarort Weelke in der Fabrik Teile teilte, brauchten wir einzig die besoffene Nachbarin Gretel, die Tante unseres Vaters, aus der Bahn zu schaffen, um den Dachfirst ihrer Scheune mit uns Spitzenkandidaten zu bestücken.
Kaiser Jakop bedeutete ganz oben angekommen, das gehöre jetzt alles ihm. Munter signierte er mit einer Kreide, die er Rebe-Scheelke geklaut hatte, eine Sandsteinplatte, um unsterblich zu sein. Die Zauberworte in Krakelschrift: Ich war hier . Er überlegte kurz, spuckte auf die Platte, wischte, wie er es zuvor mit meinem Namen auf der Schultafel getan hatte, und verbesserte: Ich bin hier . Er schaute mich fragend an. Ich schaute Jakop zurück in die Äuglein, so wie Mann es andern Männern antat, abgekühlt, mundlos. Aber ich fühlte doch was. Es war der Zeitpunkt meiner Loyalität, dachte ich und wollte ihm sagen, dass er unsere Mutter bis hierher nicht gebraucht habe, dass er Herbert auch nicht würde brauchen müssen, oder eine Lehrerin, dass ich da wär – für ihn –, nur ich, dass das reiche. Gerade als meine Lippen den Mut gefasst hatten zu sprechen, trat unsere Mutter an diesem Samstagmorgen mit der Schwester in den Hintergarten und rief, es werde getauft. Scheinbar hatte sie alles schon organisiert, endlich einen Namen parat.
Das Stück Kreide fiel aus Jakops freudig zitternden Fingern, rollte, einige Striche hinterlassend, die Sandsteinplatten entlang, über die Kante des Dachs und lautlos ins Nichts. Aber ich wusste, das war die Ruhe vor dem Sturm. Jetzt würde alles den Bach runtergehen, wenn ich mir nicht endlich eine Scheibe von ihm abschnitt und ihn vor sich selbst rettete.
sollte also meine Feuertaufe werden.
Jakop fühlte fälschlicherweise seinen Thron wiederkehren und ich wollte daher bloß weg hier, bevor die Bombe platzte, gleichzeitig dabei sein, wenn er den ganzen Laden zerfetzte. Kernfamilie adé! Ich sah das Ganze schon vor mir. Sein Haigebiss glänzte ausgeformt, als ob mehrere Sägewerke sich ineinander verkeilten, so happy war der. Wie konnte er nur so fest an etwas glauben? Nicht auszuhalten! Und ich musste das auch, um zu sein wie er. Seine Augen strahlten mit Kilowatt, brummten ihren Heißhunger akustisch in uns Schlappohr-Insassen des Hauses. Ich spürte diese Elektrizität über meinen Nacken wandern, als wir zwei von Förster in winzige Sakkos reinmontiert wurden.
„Den Arm hoch, los!“ Jetzt ging es ganz schnell. Mehrere Wagen reihten sich auf der offenen Straße hintereinander. Regen pappte von außen gegen die kalten Autoscheiben. Ich hauchte gegen die Kälte und malte mit dem Finger einen Pfau mit aufgeschlagenem Federrad in den zweidimensionalen Nebel. Hätten unsere Eltern so viele Augen gehabt wie Rebe-Scheelke Pfauenaugen – für jedes Schülerchen eins, auf jedes Kind einen Blick – vielleicht wäre der Tag gerettet gewesen. Aber auch ich hatte nur Augen für mich selbst.
Vor einer angespitzten Klinkerkirche kam die Flotte zum Halt und es klappten alle beteiligten Fünftürer dem Gotteshaus ihre Flügel entgegen. Menschen leerten sich aus den Mobilen. Prompt heulte das Würmchen. Jakop wollte Hand halten. Nicht jetzt, das Kind weine! Wurm im weißen Tuch mit Schleife, wie ein Abschiedsgeschenk. Jakop suchte seiner Mutter beidhändig hinterher, zog mich dann mit und wir stürzten aufrecht in die schönste Pfütze, dass wir klatschnass dalagen. Nur mit einem Ohr bekam ich unter dem Glockensound mit, wie das Grimm ihm aus der Hand in die Gegend segelte, als habe eine übergeordnete Macht es ihm vorm Eintritt ins Kirchenschiff aus der Hand gerudert. Begossen halfen wir uns auf, jetzt merkte ich, dass er was merkte von der Atmosphäre des Rituals. Und ich sagte: „Jakop, hör mal.“ Doch der Prozess hatte Anlauf genommen. Was für ein Mist, dachte ich, sodass er es hörte.
Was hier überhaupt los sei? So habe er sich das nicht vorgestellt! Zunächst schaute Jakop um sich, schaute aus, nach dem Buch, aber nur Füße stachen in Sicht. Wasser sprühte uns in die Kleidung. Hilfe! HILFÄ! Eine ältere, riesenhafte Hand schnappte nach Jakop und zog ihn mit sich in die Betfabrik. Er, völlig betroffen. Mutter weg. Buch weg. Alles vorbei. Weiter schubste uns die Hand, an Bänken vorbei, auf einen trockenen Platz. Neben Jakop mit jenen Händen so groß, sortierte eine alte Frau, eine größere Mutter, lang und fristig ihre Stabfinger, die genauso dünn waren wie tote Fichtenzweige im Wald. Eine weiße Erscheinung. Oma Maria. Die einzige Großmutter, die wir hatten. Und sie war wahrhaftig die größte Maria oder Mutter von allen im Raum.
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