Als hätte mir der liebe Gott vorsichtshalber gleich eine zweite Leber eingebaut. Ich wurde auch nie richtig betrunken im Sinne von Schwanken und Kotzen.
Nein, einfach nur bewusst unbewusst.
Ich soff, als würde ich mir damit meinen Lebensunterhalt verdienen.
Ein dezentes Schwirren in Kopf und Genitalgegend
eine Leichtigkeit des Seins
wunderbar erträglich
ein Sehen und Erkennen
das sofort in das Vergessen abtauchte,
ein Wissen, ohne etwas wirklich zu wissen.
Hätte es damals Absinth gegeben, ich wäre Baudelaire geworden, oder Rimbeaud, oder Blaise Cendrar, so wurde ich einfach nur Chinaski ohne Postsack, aber mit Eiern wie zwei gefüllte Postsäcke.
Meine Band war gut. Wir spielten alles nach, was im Radio zu hören war, und ich schwöre:
"Junge komm bald wieder“ ließen wir aus.
Unser Sänger war sehr gut und "hübsch das Äußere“: Schwarze Haare, blaue Augen, schlank und rank, immer ein smartes Lächeln um den weichen Mund.
Die meisten Mädchen gehörten sofort ihm. Er sang "Unchained Melody“ in der Originaltonart C.
Außerdem wusste er genau, wie man eine Zigarette zu halten hatte um cool zu wirken (das Wort gab es damals nicht!).
Noch dazu studierte er Psychologie ohne großes Aufheben darob zu machen, aber man sah es ihm einfach an.
Jeder Satz ein Schwert.
Wenn er dann sang, wurde aus dem Schwert ein Schokoriegel.
Und Frauen lieben Schokolade. Seltsamerweise war ich ihm nicht neidig.
"Ernst, weißt du, wie unendlich mich dein Solipsismus nervt?“
starrte er mich an und nahm einen Zug aus seiner Zigarette, die er immer etwas steif zwischen Mittel- und Ringfinger hielt..
“Erklär Solipsismus“, antwortete ich etwas verletzt.
“Frag mich doch, wie es mir geht?“
"Wie geht es dir?“. „Gut“.
“Siehst du, und schon bist du aus diesem Gefängnis deines Kopfes entlassen!“.
“Ähhh......wie geht es mir?“ fragte ich verzweifelt.
“Frag dich doch selbst du Solipsist!
Du kapierst doch gar nichts“. So quälte er mich mit seinen Weisheiten. Aber er meinte es nie bösartig. Und ich bewunderte ihn ob seiner Denkkraft.
Später durchschaute ich dann sein System und wir wurden richtige Freunde. Ich der zu pflügende Boden, er der darüberstreichende Wind der Weisheit.
Ich das Papier und er der Stift.
Schließlich wurde er Psychologe und arbeitete für die Caritas. Wurde Ehemann und Vater und ging am Sonntag zur Kirche. Seine Frau mußte ihm beim Geschlechtsverkehr immer schmutzige Worte ins Ohr flüstern, damit er kam. Manchmal schliefen sie einfach eine Nacht nicht durch, um richtig geil zu werden. Seltsam und unergründlich sind die Wege des Herrn....
Sein Hirn machte ihm schließlich wohl Schwierigkeiten und so flüchtete er in den sicheren Schoß der katholischen Kirche.
Dass er so gut sang, erfüllte mich mit Freude. Wenn er sang, schaltete er Gott sei Dank sein übereifriges Hirn aus.
Die erwähnte "Unchained melody“ tönte aus den Boxen und da, plötzlich, sah Chinaski aus seinen leicht blutunterlaufenen Augen eine Erscheinung:
Die Venus in der Muschel.
Ein Regenbogen im Winter.
Ein Sonnenstrahl durch bleigefütterte Kirchenfenster und ein Choral erscholl:
“Meerstern ich dich grüße!“
Unglaublich! Eine junge Maid im Dirndlkleid.
Im Gentleman-Keller!
Eine Verirrung für ihn erdacht? Irrungen und Wirrungen. Gott oder Teufel schicken mir eine Versuchung? Und es war eine!
Mephisto lachte im Hintergrund.
Glaub mir, ich hätte meine Seele sofort dem Teufel verkauft und den Vertrag unterschrieben!
Die Brüste bebten (ojojoi) aus dem Mieder, der Gang gazellengleich, die Augen schwarzbraun wie italienischer Espresso, ein leichter Anflug von Schnurrbart auf der Oberlippe. Schwarzes lockiges Haar, Beine so lang wie das Nibelungenepos, Rasse bis zum Ausrasten.
Natürlich dachte ich:
"Der Mann mit der Schokolade wird das Rennen machen“. Nein! Sie lächelte mir zu!
Ich sehe mich noch brabbelnd in der Pause vor ihr sitzen, in diesen Ausschnitt starrend, ihre Hand haltend, und ihren braunzärtlichen Blick auf mir ruhend.
"Äh, gefällt dir die Musik?“ Ein leichtes Nicken.
"Ähh,tolle Atmosphäre hier, was?“.
Ein schmunzelndes Nicken.
"Ähhhh, kommst du des Öfteren her...?“, meine hilflosen Ergüsse.
“Ja, darum bin ich auch heute da, hast du mich vorher nicht bemerkt?“, meinte sie gestreng.
“Leider nein, ich muss wohl blind gewesen sein...“, meinte ich, „blah, bla, bla“... und mein Mund und mein Hirn gehörten einem Anderen.
Fragt mich nicht warum....ich war aufgelöst wie Samarin in kaltem Wasser. Ich redete mich um Kopf und Kragen um diese Frau für mich zu gewinnen. Sie hatte mich natürlich schon längst durchschaut. Frauen wissen immer genau, mit wem sie es zu tun haben. Männer schwatzen, Frauen spüren. "Mach dir keine sinnlose Mühe, ich mag dich einfach", flüsterte sie und ihre durchdringenden dunklen Augen legten sich auf meine Seele.
Chinaski hätte sich auf der Toilette einen blasen lassen, aber ich machte einen unwiederbringlichen Fehler:
Ich war nicht nur ein Idiot, ich war ein unverbesserlicher Dummkopf. Verliebt ohne es zu genießen. Zu zerstreut und unsicher um diese Wärme annehmen zu können......
Demnächst in diesem Theater.....
Blues 1959
Seltsam, wie sich die Entwicklung vom Genuss eines gut belegten Wurstbrotes beim Lesen in die plötzliche orgiastische Erfahrung des ersten Orgasmus wandelt.
Ein schwüler Sommer.
Mein fünfjähriger Bruder und ich tummelten uns nackt in unserem Kinderzimmer. Der Sommer war heiss. Purzelbäume und Verstecksuche. Jubel und Trubel. Das Schrankbett war heruntergelassen und wir krochen zwischen den Stützbeinen des Bettes über den Teppich und blödelten herum.
Ich klemmte mich durch das enge Quadrat der Querstreben und blieb beinahe stecken.
Durch die plötzlich aufkeimende Angst steckenzubleiben und die Reibung des Teppichbodens geschah es:
Ich bekam einen Orgasmus!
Natürlich ohne Samenflüssigkeit, dazu war ich noch zu jung.
Ein unglaubliches Gefühl, vor allem, weil ich ja nicht wusste, woher diese Wonne rührte. Ich wurde beinahe bewusstlos vor Genuss.
Der Psychiater Wilhelm Reich hatte ja schon mit elf Jahren seine Haushälterin gevögelt, und man kann ja nachlesen, was sich daraus entwickelte.....
Ich starrte meinen Bruder an, der mich erstaunt betrachtete. Ich schwieg, noch erregt, und zog mich, noch innerlich vibrierend, an.
Ich legte mich sofort auf das Bett und nahm ein Buch zur Hand und bestellte bei meiner Mutter das obligate Wurstbrot (Die Zigarette danach kam erst später).
Hier kann ich endlich eine Behauptung aufstellen, die mir Niemand, kein Priester und nicht einmal ein Psychiater, widerlegen kann:
“Durch die Enge des Geburtstunnels gezwängt, die Reibung des jungen Penis im Geburtskanal, das Licht am Ende des Tunnels erblickend, erfährt er den ersten Orgasmus. Er beginnt zu schreien. Nicht vor Angst, vor Genuss!“
Zugegeben, eine etwas naive These, aber durchaus gefällig.
Oder?
Wie dies bei Mädchen aussieht, kann ich hier natürlich nicht erklären, das sollen sie sich selbst ausdenken.
Wenn ich Angst vor dem Sterben habe, und das habe ich inzwischen häufig, denk ich mich zurück in die Zeit vor der Geburt.
Ich kann nur sagen: War nicht unangenehm.
Wenn das Licht ausgeht, wird es wohl wieder so sein:
Warm
dunkel
hungerfrei
durstfrei,
politikbefreit
ohne Prüfungsängste und ohne Gier, Hass, Wollust und Neid.
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