Carl forderte Buddy mit wilden Handbewegungen auf. „Und? Weiter? Wie heißt sie mit vollem Namen?“
„Papier, du Dussel! Das heißt Papier, Gonzo“, sagte Udo belehrend.
„Mein Gott, Charly, du kannst einen vielleicht löchern. Das ist Elfi und damit basta. Wenn du dich absolut lächerlich machen willst, lauf ihr doch hinterher. Ja, los, geh schon!“
„Du kannst mich mal“, murmelte Carl in sich hinein und wollte sich abwenden. Doch dann: „Und weißt du was?“
„Nee“, gab Buddy prompt zurück.
„Bring sie beim nächsten Mal mit. Verstehst du? Du wirst sie einfach mitbringen!“
„Mann, Mann. Du hast vielleicht Nerven. Kannst du abhaken, Charly!“, sagte Buddy und schüttelte grinsend den Kopf. „Du alter Draufgänger.“
Carl spürte, dass Buddy weitaus mehr über Elfi wusste, als er preisgegeben hatte. Details würde er aus ihm heute nicht herausbekommen.
Während sie sich von der Straßenbahn zurück in ihren Vorort schaukeln ließen, brachte allein der Gedanke an das kleine Tütchen in Buddys Jackentasche ein Gefühl in Carl hervor, als seien sie Schwerverbrecher oder so was Ähnliches. Die Jungs wirkten angespannt, redeten während der ganzen Fahrt kein einziges Wort. Erst beim Verlassen der Bahn löste sich bei Carl die innere Verkrampfung, die mit jedem Schritt in der kühlen Nachtluft etwas mehr nachließ. Er dachte jetzt nur noch an das blonde Wesen aus dem Fantasio, das er hoffentlich bald wiedersehen würde.
Der erste Joint hinterlässt einen faden Beigeschmack
War Whisky ein echter Hippie? Natürlich. Oh, ja. In Carls Augen war er das. Mit Haut und Haaren. Whisky brachte alle Voraussetzungen mit, die einen wahren Hippie auszeichneten, in seiner Erscheinung unkonventionell, lehnte die Lebensweise der Gesellschaft ab. Stattdessen setzte er auf immaterielle Werte wie Frieden, Glück, Liebe und Toleranz. Ganz nebenbei verkörperte er das Ruhrgebiet mehr als alle miteinander. Den Kohlenpott-Slang beherrschte er bis zur Perfektion. Wenn er sie zum Beispiel mit seiner unverkennbaren Reibeisenstimme aufforderte: „Dann lass uns mal einen verkasematucken!“, so hieß das nichts anderes, als die mit billigem Korn gefüllten Wassergläser in die Hand zu nehmen und den Inhalt in einem Zug hinunterzustürzen.
Whisky hatte sich in einem zum Abbruch freigegebenen Gebäude häuslich niedergelassen. Eine Genehmigung besaß er nicht. Miete zahlte er ebenfalls nicht. Es war nur eine alte Baracke, heruntergekommenes Fachwerk, nichts Historisches oder so. Durch die Fenster zog es wie Hechtsuppe, bei Sturm konnte es einem die Kerzen auf dem Couchtisch ausblasen. Der alte Kohleofen vom Klüngelkerl war ein wahrer Glücksgriff für Whisky. Der reinste Allesbrenner, altes Bauholz, eine Kiepe voll Eierkohlen oder ein Bündel Briketts ließen sich überall leicht auftreiben. Und was das für eine mollige Wärme erzeugte ...
Irgendwann würden die Behörden den Laden dichtmachen. Solange dies nicht geschah, hatten sie eine wichtige zentrale Anlaufstelle und Whisky eine Bleibe mit einem festen Dach über dem Kopf.
Whisky lebte von Stütze, und das ganz gut, für Bier, Tabak und Schallplatten langte es. Wie er das allerdings mit seinem VW-Bus deichselte, blieb sein Geheimnis. Was hatten sie nicht alles damit erlebt. Zum Baden an die Möhnetalsperre waren sie gefahren, zum Altbiertrinken nach Düsseldorf, zum Angeln an die Ruhr oder sie gondelten ziellos in der Gegend herum.
Carl war vernarrt in diesen Wagen. Hinten war der komplett mit Schaumgummimatratzen ausgelegt, und die Neugierigen wurden durch blickdichte Vorhänge mit Blümchenmuster ausgesperrt. Die mit dem Autoradio verbundenen Lautsprecherboxen im Heck verrichteten problemlos ihre Arbeit und vermittelten das Gefühl einer bis dahin nicht gekannten Freiheit – Musikvergnügen ohne Lautstärkebegrenzung. Auf den Seitentüren prangten riesige Atomgegner-Zeichen, aufgemalt mit schwarzer Farbe. Aus den kreisrunden Symbolen liefen die überschüssigen Farbreste senkrecht nach unten, und niemand hatte es für nötig befunden, sie rechtzeitig abzuwischen. Jetzt hafteten sie auf dem schlüpferblauen Lack des Wagens wie ein Kunstwerk von Picasso oder so.
Es kam ihnen manchmal vor wie eine Karussellfahrt, wie eine Achterbahnfahrt oder wie in einer Kirmesraupe, wenn sie hinten im Bus auf den Matratzen Platz genommen hatten. Durch die Zentrifugalkräfte kollerten sie hin und her wie die Metallkügelchen in einem dieser handflächengroßen Irrgartenspielchen, während Whisky vorne ordentlich aufs Gas drückte, mit Schmackes durch die Kurven driftete und an irgendeinem stillen Plätzchen mitten im Schwerter Wald stoppte. Warum machte Whisky das alles, fragte sich Carl. Er war erwachsen und mindestens zehn Jahre älter.
Carl fühlte sich auf eine ganz besondere Art und Weise zu ihm hingezogen. Von diesem Kerl ging nicht der geringste Funke von Gewalt aus, obwohl er nach seinem Äußeren mühelos als Komparse in einem Wikingerfilm hätte mitwirken können. Whisky behandelte seine jungen Freunde wie gleichberechtigte Erwachsene, und das war das Entscheidende. Niemand wusste seinen bürgerlichen Namen. Keiner fragte danach, es war nicht lebenswichtig. Sie spürten, dass es passte, und nur das zählte. Carl fragte sich allerdings, wie sein eigenes Leben in zehn Jahren aussehen möge. Er bewunderte diesen Typen. Echt. Doch hätte er im Ernst mit ihm tauschen wollen, sein Leben gegen das seinige? Eher nicht. War er am Ende gar ein Spießer?
„Habt euch hoffentlich nicht irgend so ein gestrecktes Zeugs andrehen lassen. Zeigt her den Stoff.“ Whisky rieb sich verschlafen die Augen, seine Stimme rau, als hätte er sich die Stimmbänder mit Sägemehl eingerieben.
„Der Stoff ist sauber, Whisky“, behauptete Buddy, zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnaufte sich kräftig die Nase. „Hab nur astreine Quellen.“
„Ja, ja. Werden wir gleich sehen.“ Whisky betrachtete das Päckchen und drehte das Piece vorsichtig aus dem Stanniolpapier. Er hielt eine Ecke des etwa fünf Zentimeter durchmessenden olivgrünen Bröckchens unter die Flamme seines Feuerzeugs, bis es leicht zu qualmen begann. Whisky schnupperte, anfangs etwas misstrauisch, doch flugs hellte sich sein Gesicht auf wie ein Sonnenaufgang über der Bucht von Saint-Tropez.
Alle warteten gebannt auf sein fachmännisches Urteil.
„Hmm ... Grüner Türke, scheint in Ordnung zu sein, Jungs. Dann lasst uns mal ’ne Kostprobe nehmen. Oder? “ Ohne zu fackeln begann Whisky mit den Vorbereitungen für den Bau eines Joints.
Carl wunderte sich über die unzähligen Gläser mit eingelegten Gurken, die sich in der Wohnung stapelten wie in einem unaufgeräumten Tante-Emma-Laden. Auf Fensterbänken, zwischen Büchern, auf Tischen und auf dem Fußboden. Udo und Gonzo hatten auf dem verschossenen Skaisofa Platz genommen, an der Wand darüber ein Che-Guevara-Poster, dass von einer einzigen Heftzwecke und einem Streifen Tesafilm gehalten wurde.
Zum unzähligsten Male kauten sie das Thema „Bed-in“ durch.
„Was sollte der ganze Mist“, ereiferte sich Gonzo, „da liegt der Kerl sieben Tage mit dieser japanischen Ische in einem holländischen Bett und demonstriert für den Frieden, und das Ganze wird in der Tagesschau gesendet. Und jetzt? Spricht noch irgendeine Sau darüber?“
Whisky nahm Buddy zur Seite. „Ich weiß jetzt schon, was als Nächstes kommt“, sagte er hinter vorgehaltener Hand.
Buddy grinste und nickte wissend, zog eine Grimasse und versuchte wie Gonzo zu klingen. „Wisst ihr was Lennon gesagt hat? Dies ist ein Werbespot für den Frieden.“
Und jetzt legte Gonzo seine Platte auf, fing bei null an. „Wisst ihr was Lennon gesagt hat? Dies ist ein Werbespot für den Frieden. Da lachen doch die Hühner. Hätte sie besser ordentlich flachlegen sollen.“
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