Die romantisierten, in Lumpen gehüllten Menschentypen des Ziegenhirten, Gauklers und Wasserträgers mit vom Wetter gegerbten, exotischen Zügen schwanden so spurlos aus der Vorstellung der Abonnenten, als wären sie nie da gewesen, um stattdessen Papps verschlagenen, grausamen Banditenhorden, die mordend die steinigen Höhen des Balkans terrorisierten, weichen zu müssen.
Der gesamte europäische Orient stürze, so schrieb er, in eine anhaltende, tiefe Krise, die vor allem den fortschreitenden Zersetzungsprozess der Pforte offensichtlich mache. Tatsächlich wurden die Nachrichten, die von Bosnien-Herzegowina in die Welt hinaus drangen, wie nicht allein Papp warnend bekräftigte, tagtäglich bedenklicher.
Die Aufständischen forderten nichts weniger als die Ersetzung des Aschar (einer 10-prozentigen Naturalabgabe) durch eine Bodensteuer und verlangten nationale Gleichberechtigung, Religionsfreiheit, die Aufhebung des Frondienstes, der Pachten, der Arbeitsverpflichtung, der verlustbringenden Militäreinquartierungen sowie die Beseitigung der unerträglichen Beamtenwillkür.
Teilweise tendierten diese Kräfte nach Österreich-Ungarn, teilweise fanden sie Rückhalt und Unterstützung in Serbien.
Obwohl die türkische Regierung sich als zu schwach erwies, den Aufstand, der in den Grenzregionen Dalmatiens und Montenegros begonnen hatte und sich in rasender Schnelligkeit ausbreitete, um schon nach wenigen Tagen ein Drittel der Herzegowina zu erfassen, niederzuschlagen, wies Andrássy die diplomatische Vertretung in Konstantinopel ausdrücklich an, alle diese Vorgänge als eine interne Angelegenheiten der Türkei zu betrachten, sich selbst jeder Einmischung zu enthalten, die Pforte im übrigen aber wissen zu lassen, dass Österreich-Ungarn nur eines wünsche – nämlich die Erhaltung der Ordnung.
In der zweiten Jahreshälfte glückte es den Aufständischen inzwischen, den starken türkischen Armeegruppen schwere Niederlagen zuzufügen, die ihre militärischen Operationen im darauf folgenden Winter, von den jahreszeitlichen Bedingungen in den Bergen abhängig, vorübergehend überhaupt einstellten und Verhandlungen führten. Noch im September hatte auch die erste bulgarische Erhebung begonnen, die sich zwar im April 1876 fortsetzte, um aber Ende Mai bereits vorläufig vernichtet zu werden. Wie zu vermuten gestanden war, zogen die blutigen Vorgänge auf dem Balkan, beziehungsweise die Presseberichte darüber, schon bald die Aufmerksamkeit der europäischen Großmächte auf sich, wobei die Uneinheitlichkeit der nationalen Interessen und Standpunkte einmal mehr offen zutage trat und alle gemeinsamen Ansätze einer konstruktiven Orientpolitik daher schon im Voraus vereitelte.
In England war man festen Willens, der russischen Flotte auch in Zukunft Bosporus und Dardanellen zu sperren, um den Fortbestand des Osmanischen Reiches damit abzusichern. Bereits nach der Eröffnung des Suezkanals, der sogleich eine enorme Bedeutung für das britische Empire erlangt hatte, war seitens London befürchtet worden, dass dieser hochwichtige englische Seeweg durch das Mittelmeer, der das Mutterland über Gibraltar und Suez mit seinen fernen Kolonien verband, durch eine Konsolidierung russischer Interessen auf der Balkanhalbinsel, die die politische Einflussnahme der Briten in der Türkei sowie in Mittelasien zwangsläufig schmälerten, gefährdet sein würde. Großbritannien hatte daher gleichzeitig begonnen, der Türkei große Mengen an Rüstungsgütern zu liefern, dem Sultan verborgene Militärhilfe zu leisten und etliche Kommandeure, die bezeichnenderweise offiziell weiter im englischen Offizierskorps ihren Dienst taten, insgeheim zur Unterstützung der türkischen Armee zu versetzen.
Demgemäß hatte der englische Gesandte in Konstantinopel, Sir Henry Elliot, dem Sultanat namens seiner Regierung angeraten, den gegenwärtigen Aufstand "mit allen Mitteln zu unterdrücken" - eine Empfehlung, der man in der Türkei durch unzählige grausame Vergeltungsmaßnahmen nachkam, um sogleich Berge abgehackter Hände und Köpfe zu häufen.
Während England somit sämtliche russische Versuche zu verhindern suchte, die Orientkrise zugunsten der Slawen zu lösen und sich als Hauptgegner des Zarentums verhielt, das seinerseits auf eine Zerstörung der Integrität der Türkei abzielte, blieb Frankreich dagegen, ähnlich wie Italien, nur marginal an den Angelegenheiten des Balkans interessiert – beide Länder beschäftigte vielmehr der weitere fleißige Ausbau ihrer afrikanischen Kolonien. Daneben bemühte die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie sich weiterhin im Stillen, eine Aufteilung des Balkans zu eigenen Gunsten zu erreichen.
Deutschland, das immer noch eine französische Revanche für den Verlust Elsaß-Lothringens sowie einen Zusammenstoß mit den als "Alpdruck" bezeichneten Koalitionen befürchten musste, betrieb in der Balkanfrage eine Politik, die sowohl die russischen wie auch die österreichisch-ungarischen Machtansprüche in diesen Gebieten sorgsam im Auge behielt, da das >Dreikaiserabkommen< Fürst Bismarck, der seinerseits zwar bereit schien, Österreich in der Orientfrage weitgehend zu unterstützen, es jederzeit ermöglichte, die Lage auf seine Weise zu kontrollieren, indem er die Beziehungen Russlands zur Türkei gelegentlich heimtückisch zuspitzte.
Nächtlicher Weise auf der Prager Kleinseite flaschenweise süßlichen Krimsekt leerend, diskutierten Ari Papp und ein russischer Journalistenkollege dazwischen hitzköpfig und bis zur Erschöpfung ihre verschiedenen politischen Standpunkte, ohne naturgemäß einen gemeinsamen Nenner zu finden.
"Seine Majestät, der Zar, ist so vollkommen erfüllt von patriotischer Hingabe an sein russisches Reich, wie kaum einer seiner Untertanen es sein kann", erklärte der Moskowiter, seine Zigarre paffend, schlussendlich mit schwerer Zunge. "Ebenso hegt er ein - wie soll ich es nennen – wahrhaft tiefes Verwandtschaftsgefühl für die slawischen Völker am Balkan -"
"Um sie mit seinen Kampagnen aufzuhetzen!" warf Papp unverblümt ein. "Man nehme nur die ständige Agitation der russischen Presse, die die nationale Selbstständigkeit der Slawen als eine angeblich heilige Pflicht Russlands beschwören will, um deren tiefe Verbitterung damit bewusst auf die Spitze zu treiben."
Sein hartnäckiges Gegenüber ließ sich davon jedoch nicht beirren: "Mein Gott, Ihre Seite ist nicht besser als die unsere und behandelt uns äußerst schäbig. Aber der Zar möchte keinen Krieg – und noch weniger möchte er alle slawischen Völker unter die russische Krone rufen." Einen tiefen Schluck nehmend, zog der Russe ein wichtigtuerisches Gesicht.
"Machen Sie, Freund, beruflich bitte keinen Gebrauch von dem, was ich Ihnen hier anvertraue - Sankt Petersburg ist nämlich längst klar, dass uns grade die Macht am meisten zu schwächen versucht, die immerzu als unser bester Freund auftritt: Deutschland. Schon seit langem suggerieren preußische Diplomaten und Generäle – ähnlich wie auch Andrássy in Wien – unserem Kriegsminister darum die angebliche Notwendigkeit eines Konfliktes mit der Türkei."
"Lauter Lügen", entgegnete Papp, plötzlich wieder hellwach, bewusst provokant. "Faule Manöver - wollen Sie mich etwa zum Besten halten? Werter Freund, Sie bluffen doch nur."
Sich bequem auf das Sofa an seiner Seite des Tisches zurücklehnend, um seine Hand nach der Flasche auszustrecken, starrte der Russe ihn glasigen Auges an. "Wir wissen nur zu genau, woran wir mit Bismarck und Österreich hinkommen!" begehrte er in sorgenerfüllter Stimmung auf. "Man erwartet von uns doch bloß, dass wir für euch damit die Kastanien aus dem Feuer holen sollen. Spitzen Sie Ihre Ohren, Sie Besserwisser, denn ich verrate Ihnen jetzt ein Staatsgeheimnis - unser Herr Kriegsminister hat den Zaren in einer vertraulichen Denkschrift erst neulich ausdrücklich gebeten, Bismarcks Drängen auf einen Krieg mit der Türkei keinesfalls nachzugeben; dies natürlich höchst inoffiziell. Jetzt steht Ihnen aber das Maul offen, Herr Papp, oder?"
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