„ Wollen Sie mal eine Pause machen? Oder ich kann gern auch weiterlesen“, schlug Anne Schmidt vor, als sie sah, wie schlecht es Herrn Walker sichtlich ging.
„ Nein, es ist schon okay. Ich möchte lieber selbst weiterlesen. Ich habe Angst, dass mich eine Pause dazu verleiten könnte, nachzudenken und meinen Mut zu verlieren, Weiteres zu erfahren. Jetzt möchte ich aber da durch. Wenn Sie müde sind, können wir aber auch eine Pause machen“, antwortete er.
„ Nein, ich glaube, ich habe den gleichen Eindruck wie Sie, ich möchte alles wissen. Von mir aus können Sie weiterlesen. Ich habe Zeit“, sagte sie.
In der Familie lief alles prima, aber bei meiner Schwester und mir lief gar nichts. Richtig enge Freunde hatten wir wenige.
Wir versagten bei fast allem, was wir taten und fingen nun doch als Erwachsene an, an unseren Eltern zu hängen. Das machte mich noch unglücklicher. In diesem Alter lösen sich Kinder normalerweise von ihren Eltern, aber bei uns war das Gegenteil der Fall. Wir schämten uns sehr dafür. Sehr früh mussten und durften wir alles allein machen. Damals hingen unsere Freunde an ihren Eltern, die sich sehr um sie kümmerten. Wir machten uns darüber lustig, da sie immer eine Erlaubnis von Mama und Papa brauchten, um ins Kino zu gehen. Wir lachten sie aus, wenn sie sich beklagten, dass sie nicht ausgehen durften, bis sie ihre Matheaufgaben richtig gemacht hatten. Wir fanden es cool, mit 13 oder 14 auszugehen und nach Hause zu kommen, wann wir wollten, wenn unsere gleichaltrigen Freunde um 23 oder 24 Uhr zu Hause sein mussten. Wir machten uns darüber lustig, wenn Kinder, die nur eine Stunde länger draußen blieben, als es vereinbart worden war, von ihren Eltern angerufen wurden, um zu wissen, was los ist, ob etwas passiert sei. Aber insgeheim wünschten wir uns das auch. Ich spürte schon damals, dass ich diesen Schutz brauchte, um keine Angst zu haben.
Ja, es war komisch, nun dabei zuzusehen, wie die meisten Freunde nach ihrem Abi aus dem elterlichen Haus ausgezogen waren und jetzt in einer WG oder in ihrem eigenen Studentenzimmer wohnten. Andere verließen Darmstadt und gingen ganz woanders hin, studierten sogar im Ausland.
Aber wir blieben zu Hause und konnten doch nicht mit der uns viel zu früh gegebenen Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, umgehen. Der Erziehungsstil meiner Eltern war nach hinten losgegangen.
Sie hatten nun zwei gebrochene Kinder, die mit sich selbst kämpften und ihren Weg suchten. Anstatt dass unsere Eltern konsequent blieben und uns unseren Weg allein suchen ließen, wie sie es schon seit Jahren machten, kam jetzt wieder alles anders. Sie wurden wieder fürsorglicher und machten uns somit finanziell und emotional noch abhängiger von ihnen denn je. Das war verrückt. Damals, als sie sich um uns hätten kümmern sollen und für uns hätten sorgen sollen, hatten sie uns für unabhängig erklärt. Jetzt aber, in diesem Alter, in dem ein normales Kind von den Eltern loskommen sollte, banden sie uns wieder fest an sich. Ich frage mich echt, jetzt und hier in dieser Zelle: „Was wollten sie denn mit uns? Hatten sie sich auch nur einmal die Frage gestellt, was für uns gut gewesen wäre?“ Nein, ich glaube nicht, ich bin überzeugt, dass sie nur ihre eigene Lebensphilosophie leben wollten. Sie haben uns sehr geliebt, da bin ich mir sicher. Aber diese Liebe hat uns nieder gedrückt und zerstört. Sie haben am Ende immer nur das getan, was zu Ihnen selbst besser passte.
Als sie Zeit für sich brauchten und noch jung waren und noch ihr Leben leben wollten, hielten sie es für eine gute Idee, uns früh in die Freiheit zu schicken. Nun, da sie älter waren und uns brauchten, drehten sie das Spiel einfach um, und am Ende blieben sie die guten Eltern und wir die unfähigen Kinder, die Versager, die ohne Papa und Mama nichts schaffen können. Vielleicht finden sie darin einen Sinn ihres Lebens?
Alles wurde noch schlimmer, als meine Eltern sich entschieden, eine Villa im Steinbergviertel zu kaufen. Die Entscheidung dazu fiel mehr auf Druck meiner Mutter. Meinem Vater war das ziemlich egal, glaube ich. Das Haus, das wir in Bessungen hatten, war schon sehr schön, aber meine Mutter wollte ein Statussymbol haben und sie hatten inzwischen ja auch genug Geld verdient.
Wir kauften das neue Haus, ein sehr schönes Haus, wie ich fand. Aber ab diesem Zeitpunkt fing meine Mutter an abzubauen. Das neue Haus raubte ihr die letzte Kraft.
Es ging meiner Schwester immer schlechter. Um sich den Mann ihres Lebens zu angeln, hungerte sie monatelang und war nun richtig dünn. Sie kam auch tatsächlich mit dem Mann zusammen, obwohl ihr Psychologe ihr davon abgeraten hatte. Er hatte ihr gesagt: „Du bist, wie du bist, hungere nicht, damit er dich liebt. Er wird dich gerade auch deswegen wieder verlassen.“ Meine Eltern aber unterstützen sie in diesem Wahn. Mit diesem Mann blieb sie genau gesagt auch nur 3 Wochen zusammen, bis er sich doch in eine kräftigere Frau verliebte und sich von Mia trennte. Er begründete es damit, dass meine Schwester sehr dünn geworden wäre und jetzt nichts Weibliches mehr an sich hätte. Weiter sagte er, die neue Frau wäre eine richtige Frau und Sex mit ihr wäre toll. Ein Mann muss etwas anfassen können, betonte er. Ja, genau so machte er mit ihr in einer Mail Schluss. Da meine Schwester diesen Mann sehr liebte, versuchte sie, nach der Trennung wieder zuzunehmen, in der Hoffnung, Jonas würde zu ihr zurückkommen. Leider kam Jonas nicht zurück, im Gegenteil: Er verlobte sich mit seiner neuen Freundin, die wenig später ein Kind von ihm bekam.
Meine Schwester ertrug diese Niederlage nicht und wurde immer dicker und dicker. Sie ging kaum noch raus und keine Therapie konnte ihr mehr helfen.
Eines Tages, an einem Wintertag, wollte sie zu einem Hofgut herausfahren, um reiten zu gehen. Eine Stunde später erreichte uns die Nachricht, dass Mia tot sei. Wir wissen bis heute nicht, ob es ein Unfall war, wegen des Eises und der Glätte, oder Selbstmord. Auf jeden Fall schlug das Auto gegen einen Baum, so heftig, dass von dem Auto nur noch Schrott übrig blieb. Sie wurde zerquetscht und war nicht mehr zu erkennen.
Nach diesem plötzlichen, aber irgendwie schon vorhersehbaren Tod meiner Schwester veränderte sich meine Mutter. Sie machte sich immer häufiger Vorwürfe, dass sie mit uns falsch umgegangen wäre.
Als Einzelkind wurde ich nun noch mehr bemuttert, anstatt dass sie mich frei ließ.
Meine Mutter fing auch an, in Therapie zu gehen. Es dauerte Monate, bis die Therapie erste positive Wirkungen zeigte. Meine Mutter wurde wieder stärker und das neue Haus wurde immer wichtiger.
Es schien alles wieder vorwärts zu gehen, als meine Mutter an einen Nachmittag vor dem neuen Haus plötzlich zusammenbrach. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, wo ihr Krebs im Endstadium diagnostiziert wurde. Obwohl sie regelmäßig zur Krebsvorsorge gegangen war, wurde anscheinend zu spät festgestellt, dass sich der Krebs schon weit verbreitet hatte. Die Ärzte waren sehr erstaunt, dass sie bis zu diesem Tag durchgehalten hatte. Nur zwei Wochen nach der Einlieferung starb sie.
Das war ein Schock für mich. Innerhalb eines Jahres hatte ich meine Lieblingsschwester und nun auch meine Mutter verloren. Ich hasste das Leben, ich hasste das Geld und ich hasste das luxuriöse Haus, weil es das ganze Materielle symbolisierte, das meinen Eltern immer so unglaublich wichtig gewesen war. Ich beschuldigte mich selbst. Ich beschuldigte meinen Vater. Ich beschuldigte alle, die ich konnte.
Es ging mir total schlecht. Ich wollte nicht einmal an der Beerdigung meiner Mutter teilnehmen. Ich wollte weg. Ich wollte verschwinden. Ich wollte dahin, wo die beiden sich befanden.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich weiterleben sollte. Ich hatte keine echte Beziehung zu meinem Vater. Alles lief immer über Mama. Mama hier, Mama da. Es war immer Mama. Mein Vater war mehr ein ruhiger Typ, der sich bei fast allem heraushielt. Er hasste Konfrontationen und gab bei Streitereien mit meiner Mutter immer schnell klein bei.
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