Sie hatten sich wirklich ein gutes Alibi für ihr Gewissen ausgesucht. Freie Erziehung. Aber diese brachte nur ihnen etwas, uns zerstörte sie langsam, ganz langsam, aber ganz sicher unser Leben.
Nein, ich hätte es anders gewollt. Klar, dass sich jedes Kind über ein Geschenk freut. Es ist für einen Jugendlichen etwas Besonderes, auszugehen und nicht so früh nach Hause kommen zu müssen. Aber es wird zu einer Last, wenn du den Eindruck hast, dass sich niemand Sorgen um dich macht. Etwas könnte dir unterwegs passiert sein und deine Eltern liegen ruhig zu Hause und schlafen.
Ich provozierte oft, damit man mir meine Grenzen aufzeigte. Nichts kam zurück, immer wurde nur die Liebe betont. „Johnny, ich vertrau dir, mach, was du glaubst, was gut für dich ist.“ Ich wurde innerlich immer wütender und fragte mich, ob Eltern nur dazu da sind, uns finanziell abzusichern? Uns ein Dach über den Kopf zu geben? Uns Essen zur Verfügung zu stellen? Ich fragte mich Tag und Nacht, was denn die Verantwortung von Eltern sei. Warum müssen wir, die Kinder, in diesem Alter alles tragen? Warum müssen wir für uns allein entscheiden? Handeln? Wenn wir nach einem Rat fragten, kam immer nur die gleiche Antwort: „Höre in dich und tu das, von dem du glaubst, dass es dir gut tut.“ Wie viele Mal standen wir mit 14, 15, 16 da und wussten nicht, was uns gut tun würde?
Aber damals waren wir auch stolz, muss ich zugeben. Wir waren stolz, dass wir liebe Eltern hatten, die uns vertrauten und uns die ganze Freiheit überließen.
Heute sage ich nur, dass es gut war, aber diese Freiheit, diese Demokratie und Unabhängigkeit muss gelernt werden. Sie muss nach und nach übergeben werden. Zu spät ist schlecht, zu früh aber auch. Bei uns war es zu früh und wir haben es nicht verkraftet. Wir waren zu früh auf uns allein gestellt, ohne Schutz. Wie sehr wünsche ich mir jetzt, dass ich Gott gekannt hätte! Irgendetwas, das mir in der Zeit, in der ich nicht wusste, wie es mit mir weiter geht, zur Seite gestanden hätte. Mich einfach angepackt hätte und nicht nur gesagt hätte: „Du schaffst es, tu, was mit dir stimmig ist.“ Etwas , das mir einfach genau gesagt hätte, was ich tun sollte, wenn ich keine Ahnung mehr hatte, wie es weiter geht. Ein Gott, bei dem ich wüsste, er würde mich jetzt schützen, wenn ich angegriffen würde. Er würde die Angreifer verjagen, wenn ich in Gefahr wäre. Einer, von dem ich mir zu 100% sicher sein konnte, dass er über mich wachte.
Die Last, die sie uns zu tragen gaben, war zu schwer für uns in diesem Alter. Wir mussten nicht nur die Last tragen, uns selbst zu erziehen und die elterliche Verantwortung zu übernehmen, nein, wir mussten noch mehr tun. Das, was fast alle Kinder tun. Wir mussten unsere Eltern auch noch schützen. Wir mussten noch so tun, als ob sie Recht hätten. Als ob alles toll wäre, damit sie sich als die tollsten Eltern fühlen konnten. Schlimmer noch, wir durften nicht zeigen, dass wir keine Ahnung hatten, was uns gut tut. Denn das hätte geheißen, dass wir versagt hätten. Dass wir das Vertrauen unserer Eltern nicht verdient hätten. Sie wollten doch nur Gutes für uns tun. Wir trauten uns nie, ihnen etwas vorzuwerfen. Das haben wir übrigens bis jetzt nicht getan. Wir waren die Energiequelle unserer Eltern.
Es wurde dann langsam deprimierend, zu wissen und zu erkennen, dass wir nicht alles allein schaffen konnten und doch mussten. Es war für mich fast eine Schande, als ich merkte, dass ich doch jemand brauchte, der manchmal meine Hand hält. Dass ich noch ein Kind war und meine Eltern als Eltern brauchte. Es war für mich unerträglich, als ich die Grenzen meines „Ich“ erkannte. Ich hatte doch versagt. Meine Eltern hatten mich doch auf mich alleine gestellt, damit ich unabhängig von allen das erreiche, was ich möchte. Es tat weh zu sehen, dass nur auf mich zu hören bestimmte seelische Schmerzen nicht lösen konnte.
Ja, wie gesagt, kam leider alles anders. Wir spürten immer mehr, wie sich eine Leere in uns ausbreitete und fingen sehr schnell an, uns mit esoterischen und astrologischen Themen zu befassen. Wir suchten woanders die Antworten, die uns unsere Eltern verweigern hatten. Unsere Verwirrung wurde immer größer, wie auch unsere innere Instabilität.
Meiner Schwester ging es immer schlechter und sie fing an, in Therapie zu gehen. Worüber sie denn dort sprach, hatte ich sie einmal gefragt. Sie antwortete: „Ich weiß es nicht, Jo.“ Sie war die einzige, die mich „Jo“ nannte. Ich liebte meine Schwester sehr. Wir liebten uns gegenseitig sehr. Wir brauchten diese Liebe als Halt, weil wir beide das Gleiche erlitten.
Meine Schwester ging immer weiter in diese Richtung und probierte fast alles, was mit Esoterik zu tun hatte: Kartenlegen, Horoskope, Hellseher und vieles mehr. Aber alles brachte nur kurze Abhilfe, dann kam immer diese allgemeine Unzufriedenheit, von der man nicht wusste, woher sie kam. Sie war einfach da.
Du liebst dich selbst nicht, du fühlst dich unwohl, du bist hässlich, zu dünn oder zu dick.
Langsam folgte ich ihr auf diesem Weg der Suche nach dem, was mich glücklich machen würde. Fresssucht entstand bei uns beiden und bei mir auch Sexsucht. Die Fresssucht hatte ich ein bisschen unter Kontrolle, meine Schwester aber überhaupt nicht. Sie aß und fraß wie der Teufel, nur um die nächste Woche wieder zu hungern, um die Pfunde wieder los zu werden.
Bei mir war es der Sex, durch den ich mich bestätigt fühlte. Darin, dachte ich, hätte ich Erfolg. Da Gott mich bestens bestückt hatte und die Frauen, weiß Gott warum, darauf wie verrückt reagierten (auch wenn sie alle immer sagten, es käme nicht auf die Größe an) wechselte ich die Frauen wie die Slips. Je älter, desto besser. Je ähnlicher eine Frau meiner Mutter sah, desto schöner fand ich sie. In solche Frauen war ich dann nicht verliebt, aber ich war abhängig von ihnen. Wenn ich so eine Frau hatte, wollte ich nicht mehr, dass sie wegging. Ich habe an ihnen gehangen und geweint, wie ein kleines Kind, das Geborgenheit suchte. Leider zerstört gerade dieses Abhängigkeitsverhalten die Beziehungen und am Ende war ich doch wieder allein, allein mit meinem Kummer und mit der Einsamkeit.
Meine Eltern waren sehr viel unterwegs. Irgendwann fing auch unsere Mutter an, viel zu reisen. Sie meinte, wir wären schon groß genug und bräuchten gar keine Erwachsenen mehr. Außerdem gäbe es einen Chauffeur und ein Dienstmädchen zu Hause. Wir hassten diese Reisen. Jedes Mal, wenn sie zurückkamen, fragten wir uns schon, wann sie wieder gehen mussten. Es stresste uns sehr, in dieser Anspannung und dieser Angst zu leben. Wir freuten uns sehr, wenn sie wieder da waren, aber die Freude verschwand wieder viel zu schnell, weil sie auch in Darmstadt weiter arbeiteten, jeden Tag bis in den frühen Abend hinein, und am Samstag waren sie oft auf verschiedenen Feiern, wo Leute, die dachten, sie wären ganz oben angekommen, sich trafen, um über New York, Johannesburg, Kairo, Peking, Montreal, Sidney und Prag zu reden, über Boote, das neue Haus, die neue Eroberung, das neue Kleid und ähnliches. Sie taten so, als ob alles wunderbar wäre, während ihre Kinder allein im Bett zu Hause lagen und weinten.
Zu Hause schien in der Familie alles gut zu laufen. Ich fragte mich aber immer öfter, was das für eine Art von Familienliebe ist, die mich als Mensch nicht befreien kann? Eine Liebe, die die Kinder nicht glücklich machen kann? Anscheinend ging es nur unseren Eltern gut. Ich und meine Schwester waren schon fast krank, innerlich unglücklich und unzufrieden, ohne wirklich zu wissen, warum.
Anne Schmidt unterbrach Herr Walker mit einer Zwischenfrage:
„ Herr Walker, haben Sie nicht gemerkt, dass es ihren Kindern schlecht ging?“
Herr Walker seufzte, biss sich auf die Lippen und sagte:
„ Sie haben ihre Gefühle verdammt gut versteckt. Vielleicht lag es daran, wie er sagt, dass sie uns nicht beunruhigen wollten? Dass sie uns nicht zeigen wollten, dass wir versagt hatten? Klar haben wir uns darüber unterhalten, meine Frau und ich. Aber wir dachten natürlich nicht, dass das etwas mit uns zu tun hätte. Wir dachten bei unserer Tochter an Liebeskummer oder so etwas in der Art, aber sonst haben sie uns immer vorgespielt, dass alles normal wäre. Sie machten uns Komplimente. Wenn sie unterwegs waren und uns Karten geschickt haben, stand immer drauf, dass wir die liebsten Eltern der Welt seien. Es war ein Dilemma für sie. Sie haben uns schützen wollen, anstatt dass wir sie geschützt haben. Ja, es sollte aber andersrum sein, sie brauchten unseren Schutz. Vielleicht war es wirklich zu früh? Meine Frau wollte darüber aber nicht diskutieren. Sie wollte es so. Sie bestand darauf, die Kinder schon so früh in die Selbständigkeit und Selbstverantwortung zu schicken. Klar möchte ich mich selbst da nicht rausziehen. Es tut mir nur leid, so eine Sache durch ein Tagebuch zu erfahren, die man vielleicht gemeinsam hätte lösen können. Es tut mir im Herzen weh.“
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