»Du siehst aus wie Scheiße.«
»Ja.«
»Was ja?«
»Ja! Ich glaube du hast recht. Ich fühle mich wie Scheiße. Wahrscheinlich sehe ich auch aus wie Scheiße.«
»Jetzt mal nicht gleich so eingeschnappt, Kumpel. Also. Jetzt mal ganz in Ruhe und ganz von vorne. Denn so fangen wir den Abend gar nicht erst an. Wir trinken jetzt mal ein großes Bier. Ah, du bist schon dabei, aber du brauchst sicher gleich ein zweites. Und wenn wir das haben, erzählst du mir ganz in Ruhe, warum du seit sieben Wochen nicht bei der Arbeit warst und was überhaupt mit dir los ist, und ganz am Ende kannst du mir erzählen, warum du ein klein wenig blasser bist als sonst.«
»Okay. Warte kurz, ich muss nur kurz... bin gleich wieder da, ich gehe nur kurz auf’s Klo. Ich glaube ich muss mich übergeben.«
TARIFA
»Also eine nackte einundneunzigjährige Nina tanzt vor dir. Ein unvergesslicher, magischer Moment? Für immer gespeichert auf deiner Großhirnrinde. Was noch? Was bleibt noch von uns, wenn du deinen Brei von einer knackigen Krankenschwester serviert bekommst?«
»Alles nur das nicht!«
»Klar, auch schlimme Erinnerungen bleiben einem ja für immer. Der Moment, als der Hund vors Mofa gelaufen ist. Die Haare vom Vorgänger in der Dusche des Ein-Stern-Hotels. Erinnerungen müssen nur stark genug emotional sein, damit sie bleiben, egal ob gut oder schlecht, sexy oder hässlich, lustig verrückt oder todtraurig.«
»Du als einundneunzigjährige Tänzerin bist bis jetzt das einzig Negative, das bleibt. «
»Jetzt aber mal wirklich. Was bleibt?«
»Was bleibt? Es gab mehr als ein paar magische Momente in den letzten Wochen.«
»Erzähl mir deine, ich erzähl dir meine. Vielleicht haben wir ja das gleiche erlebt.«
»Wir waren in den letzten Wochen nicht länger als zwei Minuten voneinander getrennt, was soll da anders gelaufen sein?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht nichts, vielleicht alles. Also immer abwechselnd. Die besten, die magischsten Momente! Die Momente, die in Erinnerung bleiben.«
»Gerade eben! Dieser Tanz. Vielleicht tanzt die Einundneunzigjährige für immer neben mir in meiner Erinnerung, aber es wird bleiben.«
»Ich habe einen Blick von dir, den ich nie vergessen werde. An unserem zweiten Abend waren wir doch Tapas essen mit den Freunden von meinem Kitesurflehrer.«
»Ja, ich weiß, welcher Abend.«
»Und wir saßen beide am Kopf vom Tisch und konnten während des gesamten Essens nicht miteinander reden. Und da war dieser eine Blick. Einmal haben unsere Augen sich getroffen. Dieser Blick hatte etwas. Und ich weiß gar nicht was. Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, wer du wirklich bist, und ich hätte mir nie eingestanden, dass ich mich vielleicht in dich verlieben könnte. Aber der Blick, dieser Blick, ich werde ihn nicht vergessen.«
»Nein. Kein Match, kein magischer Moment bei mir. Ich habe den ganzen Abend versucht, den Blickkontakt mit dir zu vermeiden. Ich wollte mir nichts anmerken lassen, wollte unbedingt cool wirken und nicht wie ein verliebter Blickstalker. Wenn sich unsere Blicke getroffen haben, habe ich immer innerlich mit mir gemeckert und krampfhaft versucht, mich ganz auf die Gespräche mit meinen Nachbarn zu konzentrieren.«
»Aber geblieben ist dir der Moment auch.«
»Ja, aber anders als bei dir.«
»Kein wirkliches Match also. Schade eigentlich. Aber irgendetwas hast du richtig gemacht bei diesem einen Blick. Für mich war das vielleicht der wirkliche Anfang von uns.«
»Wir finden schon noch ein paar gemeinsame magische Momente. Wie ist es denn mit dem allerersten Moment. Ich werde nie dein Gesicht vergessen, bei deinem ersten Satz im Café.«
»Logisch, der allererste Moment. Ich habe dich entdeckt, diesen hübschen Mann mit seinem Buch am besten Sonnenplatz im Café. Ich war ziemlich nervös.«
»Habe ich nicht im geringsten gemerkt. Eine halbe Stunde später, auf dem Weg zum Strand, den du ja noch nie gesehen hattest, hast du dich bei mir eingehakt. Dein Psychotestspielchen...«
»Psychotestspielchen? Du hast es doch genossen!«
»Ich war völlig überfordert, das weißt du doch, das wolltest du doch. Deine Brust hat meinen Arm berührt und ich habe von der Seite nach einem Zeichen in deinem Gesicht gesucht, was wohl in dir vorgeht. Ich war völlig hilflos und wusste beim besten Willen nicht, wie ich reagieren soll. Werde ich definitiv nie vergessen! Gestochen scharf dieses Bild vor meinem inneren Auge.«
»Ja. Vielleicht. Vielleicht auch für mich einer dieser Momente. Aber kurz vorher. Kurz bevor ich mich getraut habe, mich bei dir einzuhaken, kurz davor habe ich ja lange hin und her überlegt. Soll ich? Kann ich? Ist das wirklich eine gute Idee? Ich war nervös und habe auf den Boden gestarrt. Die Straße. Die Straße sehe ich ziemlich genau vor mir. Ich könnte mir vorstellen, dass ich dieses kleine Stück Beton nie vergessen werde.«
»Das gilt als Match. Wir haben ja zwei Paar Augen. Wir können ja nicht die exakt gleichen Erinnerungsfotos auf unserer Großhirnrinde speichern.«
»Doch, wenn wir in die gleiche Richtung geschaut hätten. Gibt es solche Momente? Momente aus unseren letzten zwei Monaten, die du nicht vergessen wirst und bei denen unsere Gesichter nicht vorkommen?«
»Nachts am Strand mit Blick auf’s Wasser?«
»Ja. Die Sternenhimmel? Der Blick auf Orion?«
»Ganz sicher. Der Vollmond, der auf den Wellen funkelt?«
»Ja, habe ich auch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendetwas vergessen werde. Nicht einmal die Farbe von meinem ersten Kiteschirm.«
»Hoffentlich.«
»Bailando. Das Lied von Enrique Iglesias.«
»Dieses Lied? Niemals. Ein magischer Moment? Bist du verrückt?«
»Ganz sicher sogar. Du brauchst jetzt gar nicht so zu tun, als wäre das Lied nicht cool genug für dich. Du hast es geliebt.«
»Häh? Nie im Leben!«
»Oh doch! Es war unser erster Abend auf einer Tanzfläche. Übrigens, insgesamt auch ein Abend, den ich nie vergessen werde. Es hat alles so gepasst. Aber das stärkste Bild bist du, wie du sooo glücklich beim Mitsingen aussiehst. Bei Enrique Iglesias!«
»Ich war betrunken!«
»Es war sooo ein schöner Abend. Dein Enrique Iglesias Lachen werde ich nie, nie, nie vergessen.«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Hast du nicht noch ein etwas cooleres Bild von mir?«
»Guapilein, du musst nicht mehr der coole Surfertyp sein. Ich liebe dich, auch wenn du singst wie Enrique. Ich sehe es jedes Mal vor mir, immer wenn das Lied irgendwo läuft! Und es läuft hier oft im Radio, in den Cafés, in den Strandbars, in den Mojito-Bars. Neuerdings läuft es auch auf meinen Kopfhörern.«
Ich sag mal nichts. Dieses Lächeln ist mir auch genug. Dann singe ich eben ’Bailando’ ein Leben lang in ihren Erinnerungen, Hauptsache sie lächelt jedes Mal genau so, wenn sie daran denkt.
»Nie vergessen werde ich diese Momente, bei denen es einfach ausgesetzt hat bei mir. Ich plötzlich nicht mehr funktioniert habe, mein Gehirn nicht mehr funktioniert hat. Ich glaube, du hast meinen linken Hüftknochen schon tausend oder zigtausendmal berührt. Aber vorgestern. Kannst du dich an diesen Moment an der Kasse im Supermarkt erinnern? «
»Diesen Moment? Ich weiß, dass wir da waren.«
»Du wolltest an der Kasse an mir vorbei und hast mir ganz leicht an meinen rechten Hüftknochen gefasst, um mich ein Stück zur Seite zu schieben, um an mir vorbei zu kommen.«
»Ja, vielleicht.«
»Und ich konnte nicht mehr sprechen. Für ein paar Sekunden ging nichts mehr. Als wäre die Zeit stehen geblieben... aber nur für mich. Es ging nichts mehr. Die Kassiererin hat mich angesehen und die Lippen bewegt, aber ich habe sie nicht gehört. Eine kleine völlig harmlose Berührung und ich war nicht mehr auf dieser Welt. Ich habe dir zugesehen, wie du die Sachen zusammenpackst und meine Schenkel haben gebrannt. Gebrannt! Weil du meinen Hüftknochen leicht berührt hast. Im Supermarkt! Das war nicht normal. Das war ein bisschen krank. Aber auch ein bisschen magisch.«
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