Dann gab er ihm die 1100 Reais bar in die eine Hand und einen Kugelschreiber in die andere Hand.
Soviel Geld hatte Roberto noch nie in der Hand gehabt und ihm wurde ein bisschen schwindelig.
Aber er zögerte, denn ein Vertrag ist eine ernste Sache und sein Vater hatte ein ums andere Mal gesagt, bei Verträgen müsse man als Sportler sehr vorsichtig sein, sie genau durchlesen und unbedingt noch jemanden um Rat fragen, der sich damit auskennt.
„Nun unterschreib schon Junge, so ein gutes Angebot bekommst Du nie wieder“, sagte der Chef, „bevor ich es mir anders überlege.“
Roberto war hin und her gerissen, dann aber sagte er: „Ich muss erst meinen Vater fragen, ich bin noch keine 16.“
„Da bist Du alt genug, um einen Jobvertrag abzuschließen“, sagte der Chef, „oder bist Du ein Muttersöhnchen?“
Da klingelten bei Roberto die Alarmglocken und er atmete tief durch. Irgendetwas stimmte da nicht, sagte ihm seine innere Stimme und dann sagte er ganz ruhig: „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für ihr Angebot, Chef, und fühle mich sehr geehrt, aber mein Vater hat mir beigebracht, bei Verträgen immer erst mit ihm zu sprechen. Vielen Dank nochmals, morgen sage ich Ihnen Bescheid.“
Und er faltete den Vertrag sorgfältig zusammen, steckte ihn ein und reichte dem Chef lächelnd die Hand. Da konnte der nichts mehr sagen, obwohl er sich ärgerte, dass ihm der Fisch wieder vom Haken gehüpft war und sagte: „Gut mein Junge, frag erst deinen Vater und dann komm morgen wieder.“
Als Roberto aufgeregt nach Hause kam, da war sein Vater noch nicht da und seine Mutter auch nicht. Aber sein Großvater war da und spielte mit seinem 12jährigen Bruder Alfredo Schach.
Alfredo war wegen zwei ungleich langen Beinen keine Sportskanone, aber er war gut in der Schule, las alles, was ihm in die Finger kam und spielte Schach. Sein Großvater frönte auch diesem Hobby und hatte es ihm früh beigebracht. Jetzt konnten sie stundenlang auf der kleinen Terrasse sitzen, auf das Schachbrett starren und eine Partie nach der anderen spielen ohne sich zu langweilen. Inzwischen waren sie gleichwertige Spieler und mal gewann der eine, mal der andere, so dass es für beide spannend war, gegeneinander anzutreten.
Roberto trat zu ihnen an den Tisch und sah, dass die Partie in vollem Gange war, beide kämpften um die beste Ausgangsposition und versuchten, ihre Figuren in Stellung zu bringen. Immer enger wurde es in der Mitte des Spielfeldes und ein Schlagabtausch war nun unvermeidbar.
Wer würde zuerst losschlagen um einen Positions- oder Figurenvorteil zu bekommen?
Alfredo stürmte vor in seiner jugendlichen Unbekümmertheit und schnappte sich einen Läufer mit seinem Pferd. Das kassierte der Großvater mit seinem Bauern und so ging es hin und her bis nur noch wenige Figuren auf dem Spielfeld waren und ein Bauer des Großvaters die gegnerische Grundlinie erreichte und zur Dame wurde. Diese wunderbare Verwandlung der geringsten Figur in die mächtigste Figur des Spiels hatte Alfredo von Anfang an fasziniert und der Großvater war ein Meister in der Ausnutzung dieser Sonderregel.
Mit der neuen Dame konnte der Großvater die schwarzen Figuren wegputzen, indem er dem schwarzen König immer wieder „Schach“ bot und dann seine Figuren schlug, denn der König musste aus dem Einflussgebiet der gegnerischen Figur heraus, koste es, was es wolle. Alfredo erkannte, dass das Spiel für ihn verloren war und gab auf. Ein guter Spieler erkennt, wenn er nicht mehr gewinnen kann und streckt die Waffen, allerdings nur, wenn er den Gegner kennt und weiß, dass der keine unüberlegten Züge macht.
„Großvater, kann ich dich sprechen?“, fragte Roberto und als sein Großvater ihm freundlich zunickte, erzählte er die ganze Geschichte und zeigte ihm das Geld und den Vertrag. Sein Großvater las den Vertrag sorgfältig durch und meinte dann: „Vor deinem Titel als Champion von Rio und dem Fernsehauftritt wäre das ganz in Ordnung gewesen, aber jetzt hast Du eine Chance, mehr zu bekommen. 22 Surf-Schülerinnen, die bei Dir lernen wollen, das ist eine ganze Menge für den Anfang. Du bist anscheinend beliebt bei den Mädchen. Wir sollten 50 Reais pro Unterrichtsstunde verlangen und uns dann auf 40 herunterhandeln lassen und den Vertrag auf 6 Monate begrenzen. Außerdem musst Du ja auch noch zur Schule gehen, also kannst Du höchstens jeweils 2 Stunden an 5 Tagen die Woche geben. Wir sollten auch eine maximale Anzahl von 4 Schülern pro Stunde vereinbaren. In 6 Monaten wird dann neu verhandelt, mal sehen, wie sich die Sache entwickelt.“
Als Vater Ronaldo nach Hause kam und von der ganzen Sache erfuhr, war er ganz begeistert und stolz auf seinen Sohn, den er so lange links liegen gelassen hatte und meinte: „Wir können auch 60 Reais die Stunde verlangen.“
Der Großvater meinte aber, man solle es nicht übertreiben, denn schließlich gäbe es viele arbeitslose Surf-Lehrer und Roberto sei ja noch keine 16 Jahre alt und würde erst anfangen mit der sportlichen Karriere und dem Unterricht.
Vater Ronaldo entgegnete, man müsse die Gunst der Stunde nutzen, denn es könne auch schnell wieder vorbei sein mit dem sportlichen Erfolg. Schließlich beschlossen sie, alle drei zum Chef der Surf-Schule zu gehen und den Vertrag auszuhandeln.
Der gute Mann war überrascht, nun gleich drei Leuten gegenüber zu stehen. Und als er die Forderung von Robertos Vater nach 60 Reais hörte, auch ziemlich verstimmt und meinte, dafür könne er drei Surfer als Lehrer einstellen, da würde wohl nichts aus ihrer Geschäftsbeziehung werden. Da gab der Vater nach und meinte, 50 Reais müssten aber drin sein und schließlich einigte man sich auf 45 Reais, 6 Monate Laufzeit, 10 Stunden pro Woche, maximal 4 Schüler pro Stunde und ausschließliche Tätigkeit und Werbung für die Ipanema-Surf-Schule.
Roberto hatte nun ein gesichertes Einkommen von rund 1800 Reais im Monat und bekam ab sofort kein Taschengeld mehr, dafür aber die große Anerkennung vom Vater und vom Großvater. Geld nach Hause zu bringen, war in ihren Augen die wichtigste Aufgabe eines Mannes.
Seine Mutter war sehr glücklich über diese Entwicklung, nur die Körpergröße ihres Sohnes erfüllte sie mehr und mehr mit Sorge. Als sie ihm wieder einmal die Haare geschnitten hatte, warf sie sie nicht weg wie sonst, sondern tat sie in eine Tüte. Eine Nachbarin hatte ihr von einer Frau erzählt, die mit Macumba-Ritualen Kranke behandelte und erstaunliche Erfolge erzielt hatte. Sie wohnte weiter oben am Hügel und eines Nachmittags machte sich Mutter Theresa auf den Weg dorthin. In ihrer Tasche hatte sie ein Foto von Roberto und seine Haare.
Der Besuch bei der Magierin
Die Magierin war in Salvador de Bahia geboren und aufgewachsen und hatte dort die geheimen Rituale des Candomblé- und Macumba-Kults von ihrer Mutter gelernt, die eine Priesterin der afrikanischen Religionen war. Die afrikanischen Sklaven hatten bei ihrer Verschleppung nach Brasilien ihre Götter und ihren Glauben mitgebracht und übten ihn heimlich aus oder vermischten ihn mit dem katholischen Glauben ihrer Herren, indem sie vor Jesus Christus niederknieten und beim Gebet an Oxala und Iemanja dachten.
Die weiß gekleidete Priesterin betrachtete lange das Foto von Roberto und rieb dabei seine Haare zwischen ihren Fingern. Dann sagte sie: „Er muss um Mitternacht zu mir kommen und ein Beschwörungsritual mitmachen. Dabei werde ich die Orixas anrufen und um Hilfe bitten.“
Als seine Mutter ihm davon erzählte, wollte er erst nicht und überlegte eine Woche lang hin und her.
Dann sagte er sich, was kann ich schon verlieren außer 50 Reais, die die Priesterin für die Zeremonie verlangte, und ging hin.
Die alte Frau saß in einem halbdunklen Raum, der nur von vier Kerzen erleuchtet war und sagte ihm, er müsse den Göttern nackt und demütig begegnen und sich vor dem Altar auf einen Tisch mit einem großen Tuch legen. Roberto genierte sich erst, aber dann sagte er sich, die Frau ist älter als meine Mutter, was soll´s. Er zog sich aus und kniete vor der ganz in weiß gekleideten alten Frau. Sie legte ihm ihre Hand auf den Kopf und schloss die Augen. Roberto fühlte einen warmen Energiestrom durch sich hindurchfließen und rührte sich nicht.
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