Isabella war wie vor den Kopf geschlagen und machte den Mund auf – und dann wieder zu. Sie fühlte, dass es keinen Zeck hatte, zu protestieren, der Trainer fühlte sich selbst nicht wohl bei der Sache. Tränen rollten ihr über die Wangen.
Sie ging auf die Toilette und heulte sich aus. Wie ungerecht die Welt doch ist, dachte sie und wie gemein zu mir. Und schon schossen ihr wieder die Tränen des Selbstmitleids aus den Augen.
Als sie sich am Waschbecken das verheulte Gesicht wusch, kam die Wut über sie: „Ich werde ihr die Augen auskratzen“, schrie sie plötzlich los und mit ihren roten Fingernägeln machte sie einen Prankenschlag wie eine Raubkatze und fauchte wie eine Tigerin vor dem Toilettenspiegel.
Der Frau neben ihr, die sich gerade die Lippen schminkte, fiel vor Schreck der Lippenstift aus der Hand und sie wich zur Seite.
„Was ist los mit dir?“, fragte sie, „muss ich mir Sorgen um dich machen?“
Isabella sah ihr Gesicht im Spiegel mit der verschmierten Wimperntusche und ihre rote Krallen-Hand und musste plötzlich lachen über die ganze Situation.
„Ach, ich sollte Fahnenträgerin sein in diesem Jahr,“ sagte Isabella, „und jetzt kriegt eine andere die Rolle, die Nichte vom Chef.“
Sie schluchzte herzzerreißend.
„Du bist noch so jung, Du hast noch viele Chancen. Außerdem kannst Du jetzt den Karneval so richtig genießen und nur aus Freude tanzen, das ist doch auch schön.“
Die Worte trösteten Isabella, sie lächelte wieder und wusch sich ihr Gesicht von Neuem.
„Ja, ich will tanzen“, dachte Isabella, „ich will meinen Schmerz weg tanzen.“
Als die Trommeln anfingen zu dröhnen, da zuckte es ihr in den Beinen, sie musste einfach tanzen. Und als sie tanzte und sich dem Rhythmus hingab, da schmolz der Schmerz dahin wie Butter in der Pfanne. 3000 Menschen bewegten sich im Rhythmus der Trommeln, wurden eins in der Bewegung und vergaßen alles um sich herum, ihre Sorgen, den Alltag, ihr persönliches Elend.
Auf allen Gesichtern erschien ein Ausdruck entrückter Seligkeit, der Gott des Tanzes kam über sie und führte sie in sein Reich aus Rausch und Verzückung.
Nach 82 Minuten stoppten die Trommeln auf ein Zeichen des Chefs und seine Stimme kam über alle Lautsprecher: „Das war großartig Leute, ihr seid Spitze, wir werden im Sambodromo den Aufstieg in die erste Liga schaffen.“
Jubel brandete auf und die Trommeln legten wieder los.
Aber der Chef stoppte sie wieder mit einer Handbewegung.
„Mehr als 82 Minuten dürfen wir nicht brauchen für den Zug durch´s Sambodromo, sonst gibt es Punktabzug, merkt Euch das! Für heute ist erst mal Schluss! Gute Nacht! Boa Noite!“
Widerwillig packten die Musiker ihre Instrumente ein und die Versammlung löste sich langsam auf. Ausgerechnet, wenn´s am Schönsten ist, muss man aufhören!
Aber in der nächsten Nacht ging es los mit dem Karneval und man sollte sein Pulver nicht schon vorher verschießen, schließlich ging es um großes Prestige und um viel Geld.
Isabella schlief in dieser Nacht unruhig und hatte wirre Träume. Sie war im Sambodromo und tanzte gerade an den Fernsehkameras vorbei und drehte sich im Samba-Rausch, da hielt sie jemand am Kleid fest, sie aber wollte tanzen und riss sich los. Der andere hielt auch fest und so zerriss das Kleid. Zum Glück hatte sie einen schönen Bikini drunter und da die Choreografie nicht unterbrochen werden durfte, tanzte sie einfach weiter, ja sie tat sogar so, als wäre das Teil der Show und warf das Kleid ab wie eine Schlange, die sich häutet, drehte sich immer weiter und ließ ihre Hüften kreisen. Das Publikum applaudierte und zwei Kameras richteten ihre Objektive auf sie aus. Jetzt war sie doch live im Fernsehen und nicht die blöde Kuh mit der Fahne. Sie nahm ihr Kleid, schwenkte es wie eine Fahne und alle Augen richteten sich auf sie, als wäre sie Jeanne d´Arc, die auf dem Schlachtfeld vorangeht.
Sie erwachte und versuchte, den Traum ins Bewusstsein hinüberzuretten, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, der Traum war wie weggeblasen.
Schließlich schlummerte sie wieder ein und hatte einen neuen Traum: Sie stand auf einem Surfbrett und tanzte auf einer riesigen Welle übers Meer, die Welle wurde immer höher und überschlug sich. Sie glitt in die „Tube“, in die Wasserröhre, die sich in dem Augenblick bildet, bevor die Welle sich überschlägt. Diesen Augenblick zu erleben war der Traum eines jeden Surfers, dort entlangzugleiten, wo eine halbe Sekunde später die Wassermassen zusammenstürzen. Das war der höchste Schwierigkeitsgrad und gab die höchste Bewertung der Punktrichter.
Wieder erwachte sie und diesmal erinnerte sie sich genau an den Traum mit allen Einzelheiten.
Was hatte das wohl zu bedeuten? Zur Sicherheit schrieb sie ihn schnell auf einen Notizblock, der auf ihrem Schreibtisch neben dem Bett lag. Jetzt war der Traum dokumentiert und sie schlief beruhigt wieder ein.
Es war heller Vormittag, als sie erwachte. Heute war der Tag der Entscheidung im Sambodromo, aber da sie nicht die Fahne tragen würde, war sie ganz gelassen und überlegte, wie sie die Zeit bis zum Abend verbringen sollte.
Vielleicht noch eine Runde surfen in Ipanema? Das Surfen hatte ihr mehr und mehr Spaß gemacht und die Lehrstunde mit Roberto war immer sehr lustig. Sie hatten beide den gleichen Humor und lachten viel zusammen, und wenn Roberto ihr zur Begrüßung und zum Abschied zwei Küsschen auf die Wangen gab, dann war das jedes Mal ein besonderer Moment.
Isabella hatte als Kind schon ein Skateboard gehabt und war einige Jahre damit viel unterwegs gewesen im Stadtteil, bevor das Tanzen ihre Leidenschaft wurde. Diese Kindheitserfahrung kam ihr jetzt beim Surfen zu Gute, denn ihr Gleichgewichtssinn adaptierte sich schnell auf die Verhältnisse im Wasser. Sie machte rasante Fortschritte und war die absolut Beste von allen 22 Anfängerinnen. Roberto machte ihr oft Komplimente.
„Du könntest in diesem Jahr noch an der Jugend-Stadtmeisterschaft teilnehmen“, hatte er zu ihr gesagt, „die Mädchen vom letzten Mal sind jetzt zu alt, du hättest eine echte Chance.“
Isabella hatte es sich durch den Kopf gehen lassen, warum eigentlich nicht?
Beim Surfen hatte sie gute Chancen, auf´s Siegertreppchen zu gelangen, denn es gab nur wenige Mädchen, die auf hohem Niveau surfen konnten, tanzen aber konnten viele. Samba-Tanzen war ein Volkssport, eine Massenbewegung mit langer Tradition. Ihr Vater hatte ihr die beste Surf-Ausrüstung gekauft und sie lag jederzeit bereit für sie im Schuppen der Surf-Schule. Schnell machte sie sich fertig, aß noch ein paar Happen und ab ging´s nach Ipanema.
Roberto war schon in der Surf-Schule, als sie dort eintraf. Nach dem Anfängerkurs hatte er einen Fortgeschrittenenkurs angeboten, und die Mädchen waren ihm treu geblieben. Er war beliebt bei ihnen, aber bis jetzt hatte er mit keiner etwas „angefangen“, obwohl einige heftig mit ihm flirteten, um auch seine private Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sein Chef hatte ihm aber eingeschärft, Arbeit und Privatleben auseinander zu halten: „Die Mädchen sind unsere Kunden“, sagte er zu Roberto, „und es ist schlecht fürs Geschäft, wenn Du mit einer etwas anfängst und die anderen eifersüchtig werden, oder gar mit zweien und die sich hier in die Haare kriegen.“
Bisher war das für Roberto kein Problem gewesen, Mädchen hatten ihn bis jetzt nicht sonderlich interessiert, aber seitdem er so gewachsen war und immer weiter wuchs, da begann er, die Mädchen mit anderen Augen zu sehen und fand sie gar nicht mehr so albern wie früher. Vor allem Isabella hatte es ihm angetan und er freute sich mehr und mehr auf die Begrüßungsküsschen auf die Wangen, wie es in Brasilien üblich ist.
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