In ihr steckt mehr, als der erste Anblick offenbart. Sie ist eine kleine Wildkatze. So kann man sich also täuschen , runde ich in Gedanken meinen Eindruck von ihr ab. Ihrem Telefonat nicht zu lauschen, ist schier unmöglich, denn ihre gepfefferten Antworten an den Mann am anderen Ende der Leitung lassen mich laut loslachen. Am Anfang versuche ich mir das Lachen noch etwas zu verkneifen, doch mein Körper bebt so stark, dass ich mich nach einigen Sekunden geschlagen geben muss und mich richtiggehend schüttele.
Nach dieser kleinen, aber heiteren Unterbrechung führe ich mein Werk in vollster Präzision fort – bis zur Vollendung. Claras Augen leuchten, als sie ihr Tattoo im Spiegel betrachtet. Ein regelrechtes Strahlen stiehlt sich in ihre Augen und ist mir Bestätigung und Würdigung genug. Es macht mich nicht nur stolz wie bei meinen üblichen Kunden, sondern wirklich glücklich. Weshalb mich bei ihr dieses Glücksgefühl überkommt, kann ich allerdings nicht sagen. Merkwürdig, wieso gerade bei ihr? Was ist so anders an ihr, dass ich mich so fühle? Ich bin wirklich glücklich , denke ich irritiert.
Meine Arbeit lässt mich stets in eine fremde und aufregende Welt eintauchen. Eine Welt der Unbeschwertheit. Des Vergessens. Für die Dauer, die ich in meinem Studio verbringe, bin ich gelöst, abgelenkt. Zu tätowieren, andere Menschen mit meinem Talent erfreuen zu können, tut mir gut. Auch heute ist meine Arbeit wieder wie Balsam für meine Seele. Normalerweise bin ich jedoch sehr professionell, was den Umgang mit meinen Kunden angeht. Heute allerdings ging meine Fantasie mit mir durch. Die Nähe, welche ich bei Clara eben genossen habe, berührt etwas in mir. Sie hat mich während des Tätowierens nervös gemacht. Clara zu berühren, war mehr, als nur Haut unter den Händen zu spüren und diese zu tätowieren. Jeden Tag fasse ich die unterschiedlichsten Körperstellen von Kunden an, um sie zu verschönern. Doch diese makellose, leicht gebräunte Haut war samtweich und roch unglaublich gut. Fast zu gut. Sie war alles andere als gewöhnlich – in jeder Hinsicht.
Am frühen Abend fahre ich wie abgesprochen zu meinen Eltern. Sie leben ebenfalls in München, ganz in unserer Nähe. Am Straßenrand läuft eine junge Frau mit braunen Haaren entlang. Als ich auf ihrer Höhe bin, verlangsame ich das Tempo und schaue erwartungsvoll in ihre Richtung, um ihr Gesicht zu erkennen. Die Ernüchterung trifft mich schwer, denn es ist nicht Clara. Ich gebe Gas, schaue nach vorn und konzentriere mich auf die Straße, um pünktlich um 18:30 Uhr zum Essen zu kommen.
Während des gesamten Abendessens, der selbst gemachten Pizza meiner Mutter, schleichen sich ständig mandelförmige braune Augen in meine Gedanken. An Clara zu denken, lenkt mich ab. Ich bin nicht hundertprozentig bei Lillie oder dem Essen und es macht mich langsam wahnsinnig. So etwas ist mir noch nie passiert. Klar gab es schon Frauen, aber keine, die sich so in meine Gedanken geschlichen und mir den Verstand geraubt hat, nachdem ich sie nur einmal gesehen habe. Zweimal fragt mich meine Mutter – oder ist es Lillie? – etwas und ich reagiere nicht darauf, da ich noch immer nur an diese zarte, leicht gebräunte Haut denken kann. Claras Haut. Zu gern hätte ich sie nach dem Stechen noch in ein Gespräch verwickelt, aber ich stand mir mal wieder selbst im Weg. Ich wusste nicht, was ich hätte fragen können, ohne dass es so wirkt, als würde ich sie ausquetschen wollen. Dabei interessiert es mich wirklich, wie sie lebt, wie sie ihren Alltag bestreitet, mit was sie sich ihren Lebensunterhalt verdient. Clara ist ein Mensch voller Widersprüche und Gegensätze. Ihr zartes Wesen in Kombination mit ihrer scharfen Zunge macht sie so interessant für mich. Klein und zart ist ihre Gestalt, doch ihre Antworten kommen schnell, provokant und alles andere als schüchtern. Diese Mischung aus zerbrechlich wie Porzellan und scharf wie Chili bringt meine Gedanken völlig durcheinander. Das Einzige, was ich über sie weiß, ist, dass sie mit ihrem schwulen Freund zusammenwohnt. Klar habe ich ihre Daten, also ihre Adresse, doch ich kann ja wohl schlecht bei ihr zu Hause auflaufen und sagen: »Hey, ich bin es, dein Tätowierer. Was machst du heute noch so? Lust auf ’ nen Kaffee – mit mir?« Nein, das geht doch nicht , versuche ich die Gedanken an sie abzuschütteln und widme mich wieder dem Essen und meiner Familie.
Nach dem Abendessen versorgt uns meine Mutter noch mit Essen zum Mitnehmen, welches sie in ihren heiß geliebten „Lock & Lock“-Dosen verstaut. Meine Einwände, sie müsse das nicht tun, habe ich schon längst aufgegeben. Sie macht es gern, das betont sie jedes Mal aufs Neue. So läuft meine Mutter Maria mit ihrem Göttergatten, meinem Vater Korbinian, Arm in Arm mit uns zum Tor ihrer Einfahrt. Wir umarmen uns zum Abschied und bedanken uns für die leckere Pizza. Anton bellt zum Dank. Lillie quittiert ungeduldig unsere Verabschiedung, indem sie sich an mich hängt, mit ihren Händen an meinen Armen zerrt, immer lauter wird und schließlich fragt: »Papa, darf ich mal wieder bei Oma und Opa schlafen? Es ist schon so lange her.« Sie blickt so bettelnd und mitleidig drein, dass ich einen unbeholfenen Blick zu meinen Eltern werfe.
Meine Mutter legt ihren Kopf schief und antwortet an meiner Stelle: »Aber natürlich, mein Schatz. Dieses Wochenende geht es leider nicht, wir sind mit Karin und Andreas zum Kartenspielen verabredet. Aber was hältst du vom nächsten Wochenende?«
Mein Vater wendet sich ebenfalls an Lillie und ergänzt: »Lass mich beim Schafkopfspielen gewinnen und ich lade dich und deine Oma auf ein großes Eis ein.«
Lillie hüpft vor Freude auf und ab, zieht an meinem Arm und ruft beschwingt: »Juhu, ich freue mich so. Ich schlafe bei Omi und Opi. Juhu!« Dankend und zugleich vorwurfsvoll schaue ich meine Eltern an.
»Ihr wisst schon, dass sie mich jetzt eine Woche lang jeden Tag mindestens zwanzigmal fragt, wann sie bei euch schläft?«, sage ich in verzweifeltem Tonfall.
Mein Vater meint darauf bloß: »Stimmt, das war unüberlegt von uns. Aber man muss auch Opfer bringen, mein Sohn.« Anschließend klopft er mir kurz auf die Schulter, wie um seine Worte zu unterstreichen. Wir verabschieden uns nochmals und gehen dann zum Auto. Anton springt in den abgetrennten Kofferraum meines Jeeps und Lillie nimmt hinten auf ihrer Sitzschale Platz.
Wir winken wie jedes Mal aus den geöffneten Fensterscheiben, während wir die Einfahrt der besten Großeltern der Welt entlangfahren.
Auch wenn ich mit Lillie alles so gut wie möglich alleine meistere und stolz darauf bin, so weiß ich doch, dass wir ohne die Unterstützung meiner Eltern und meiner Schwester Magdalena nicht da wären, wo wir heute sind.
Mit einem Baby alleine dazustehen und das auch noch als Mann, ist nicht ohne. Arbeiten und sich gleichzeitig um das erkrankte Kind kümmern zu müssen, das infolge eines Hirnschlages eine Behinderung davongetragen hat – was auch erst einmal verarbeitet sein will –, war und ist einfach die Hölle.
Man versteht nicht, was und wieso das alles passiert ist. Als wäre man in einem Strudel gefangen, der einen immer weiter in die Tiefe zieht. Und es bleibt einem nichts anderes übrig, als auf den harten Aufprall zu warten, der einfach nicht kommen will.
Meine Eltern waren und sind mein Netz, mein Halt. Sie haben mich immer aufgefangen und unterstützt.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.