Ihr Redefluss schwappte über ihn hinweg, er hatte die Schotten dicht gemacht. Immerhin bekam er mit, dass er sich am heiligen Sonntag aus seiner Ruhe erheben sollte, um zu irgendeiner Ausstellung zu gehen. Womöglich auch noch in Anzug und Schlips. Marions Hobby in allen Ehren, aber das ging denn doch zu weit.
„Geh allein. Du weißt doch, so was interessiert mich nicht“, kam es knapp.
Marion wusste Bescheid. Es hatte jetzt keinen Sinn, weiter zu diskutieren. Wortlos stand sie auf, um den Tisch abzuräumen.
Es erstaunte Alfred ein wenig, dass sie nicht weiter versuchte, ihn zum Mitkommen zu überreden. Aber das würde bestimmt noch kommen, sie hatte da so einen siebten Sinn, den richtigen Moment abzupassen. Aber dieses Mal würde er eisern bleiben, so viel stand fest. Malerei, überhaut die sogenannte Kunst, es gab kaum etwas, das ihn weniger interessierte. Er stand auf und ging mit schleppenden Schritten die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Nach der anstrengenden Golfrunde und dem deftigen Essen war es höchste Zeit für seinen Mittagsschlaf.
***
Wie immer verzog sich Walter nach dem Essen auf die Couch zu einem Nickerchen. Er hörte Annelie in der Küche mit dem Geschirr klappern, ein vertrautes, behagliches Geräusch. Mit geschlossenen Augen ließ er die heutige Golfrunde noch einmal revuepassieren. Der verlorene Ball ärgerte ihn sehr. In letzter Zeit war es nicht mehr sehr oft vorgekommen, dass er einen Ballverlust einstecken musste. Aber in diesem verflixten, hohen Gras hatte man kaum eine Chance, da konnte man so lange suchen wie man wollte. Wenn er es recht bedachte, war der Golfplatz alles andere als gepflegt. Wenn er da an die tollen Fairways dachte, die er im Fernsehen sah, die sahen aus wie geleckt. Dort war es fast ein Ding der Unmöglichkeit, einen Ball zu verlieren. „Elender Schlampladen“, murmelte er vor sich hin, bevor er einschlief.
Mit einer Illustrierten und einer Kaffeetasse bewaffnet schlich Annelie zu ihrem Lehnstuhl. Sie wollte ihren Mann nicht wecken. Aber ihre Vorsicht war überflüssig, denn es hätte schon einer massiven Störung bedurft, dass das passierte. Wenn er schlief, dann schlief er, selbst wenn das ganze Haus über ihm zusammenbrach.
Sie betrachtete ihn liebevoll. Sein gebräuntes und mit Altersflecken gesprenkeltes Gesicht zeigte deutliche Spuren des harten Lebens, das die Landwirtschaft mit sich brachte. Sie hatten gut daran getan, vor einigen Jahren ihr Arbeitspensum zurückzufahren. Mittlerweile lag ein Großteil der Felder brach und brachte trotzdem gutes Geld. Die Subventionen vom Staat waren nicht zu verachten.
„Geld bekommen für nichts, wo soll das nur hinführen?“, hatte Walter zunächst geschimpft, aber dann hatte er es sich doch anders überlegt. Er spürte das Alter in seinen Knochen und war froh, dass er nicht mehr jeden Tag in aller Herrgottsfrühe mit dem Trecker hinausfahren musste.
Was sollte auch die ganze Plackerei, sinnierte Annelie weiter. Sie hatten keine Kinder, denen sie ihren Besitz vermachen konnten. Wenn wir nicht mehr sind, geht sowieso alles zum Teufel. Nein, es war schon gut, dass Walter langsamer machte. Sein schwaches Herz brauchte dringend Schonung, hatte der Arzt gesagt.
Dass er mit dem Golfen angefangen hatte betrachtete sie als Glücksfall. Er kam an die Luft, hatte nette Gesellschaft und immer etwas zu erzählen. Sie trank einen Schluck Kaffee und schlug dann erwartungsvoll die Zeitschrift auf. ‚Ihre Sterne im Juni‘, darauf hatte sie sich schon den ganzen Vormittag gefreut.
Gerade hatte sie es sich in ihrem Lehnstuhl bequem gemacht, als es einen lauten Schlag tat. Sie fuhr zusammen, und Walters leises Schnarchen hörte abrupt auf. Beide sahen sofort, was passiert war: Das Bild von Oma Josefa war von seinem Haken gerutscht und heruntergefallen.
„Jesus und Maria, die Josefa poltert“, jammerte Annelie und schlug entsetzt die Hände vors Gesicht.
Walter verdrehte die Augen. „Nicht schon wieder“, murmelte er leise, aber da legte Annelie auch schon los.
„Wenn die Josefa unruhig ist, passiert was, das weißt du doch auch. Das letzte Mal ist meine Cousine verunglückt.“ Sie stand auf und klaubte vorsichtig das gerahmte Ölbild auf, das an prominenter Stelle über dem offenen Kamin gehangen hatte. Der Rahmen war zum Glück heil geblieben, und sie lehnte das Bild an die Wand.
Wie es sich, zwar selten, aber immer zur Unzeit, von seiner Befestigung lösen konnte, war selbst Walter ein absolutes Rätsel. Es musste mit irgendwelchen Spannungen in dem gemauerten Rauchabzug zu tun haben. Er hing nicht an dem Ölschinken, und wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre das Gemälde schon längst in der Mülltonne gelandet. Aber auf ihre Oma Josefa ließ Annelie nichts kommen. Die hatte ‚das zweite Gesicht‘ gehabt, wie sie stets behauptete. Vermutlich rührte von diesen Ammenmärchen auch ihr Interesse an dem ganzen Hokuspokus, an den sie so fest glaubte.
Walter hatte sich schon halb von der Couch erhoben, um die Josefa wieder an ihren angestammten Platz zurück zu hängen, aber Annelie winkte ab. „Das kannst du später machen, jetzt schlaf erst einmal.“ Sie ging zu ihm hinüber und strich ihm übers Haar. Gehorsam schloss er die Augen, und schon Sekunden später war wieder sein leises Schnarchen zu hören.
Annelie hob die Illustrierte auf und setzte sich im Sessel zurecht. Sie warf einen ängstlichen Blick auf das Bild. Oma Josefa schien sie direkt anzuschauen, und heute war dieser Blick äußerst sorgenvoll. Das passt, dachte sie bang. Seit ein paar Nächten wurde sie von Alpträumen geplagt, und nun auch noch dieser Bildersturz. Sie riss sich von den düsteren Gedanken los und konzentrierte sich auf den Artikel, den sie gerade aufgeschlagen hatte. Beim Lesen bewegte sie die Lippen, um nur ja jedes Wort mitzukriegen. Ein neuer Astrologe war angekündigt worden, der schon vielen Prominenten die Zukunft vorausgesagt hatte. Sie war aufs Äußerste gespannt, was er über ihr eigenes Schicksal zu berichten wusste.
***
In vollem Lauf riss Gerd die Haustür auf und stürmte ins Wohnzimmer, wo Marlene gerade dabei war, ihre Fingernägel zu lackieren. Der Altersunterschied zwischen der attraktiven Mittvierzigerin und dem angehenden Senior war nicht zu übersehen. Sie war ihm vor ein paar Jahren bei einem Pressetermin über den Weg gelaufen. Ein Blick hatte genügt, und sein langjähriges Eheweib war sofort in Vergessenheit geraten. Ausgestattet mit einem kurvigen Körper, langen, schwarzen Haaren und einem vollen, sinnlichen Mund war sie das fleischgewordene Ebenbild seiner Träume gewesen. Und sie hatte ihre Karten gut ausgespielt. Nach einer unschönen Scheidungsschlacht war Marlene, gut zwanzig Jahre jünger als Gerd, ziemlich schnell die neue Frau Scheurich geworden.
„Stell dir vor, die sind schon wieder über mich hergezogen“, berichtete er aufgebracht.
Marlene schaute hoch. „Wer jetzt?“, fragte sie ohne großes Interesse. Bei Gerd war stets Alarm in der Hütte, man musste nicht auf alles springen, was in seinem Kopf so vor sich ging.
„Na, wer wohl? Der Schneider natürlich!“ Aufgeregt marschierte Gerd im Zimmer auf und ab. Der stellvertretende Bürgermeister Hartmut Schneider war sein erklärter Todfeind. Nur gut, dass er ein paar verlässliche Informanten im Rathaus sitzen hatte, die ihm jede seiner fiesen Schmähattacken sofort brühwarm aufs Handy schickten.
„Als ob der keinen Dreck am Stecken hat! Das ist jetzt Jahre her, und immer noch hackt dieser Saukerl auf mir herum.“
Marlene schraubte ungerührt das Fläschchen mit dem Nagellack zu. „Du sagst doch selbst, Politik ist ein schmutziges Geschäft.“ Sie stand auf und stöckelte auf pinkfarbenen Pantöffelchen auf ihn zu. „Warum hörst du denn nicht auf damit? Wir haben das doch gar nicht nötig. Es gibt so viele andere schöne Dinge, die sich lohnen.“
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