Successfully downloaded: dich und andere Gemeinheiten
Prolog
Enzyklopädischer Eintrag aus dem 22. Jahrhundert
Homo pronus: Abart des Homo sapiens, vermehrtes Aufkommen ab dem 21. Jahrhundert, häufig bezeichnet als Degeneration Download in Abgrenzung zum Idealtypus. Besondere Merkmale: gebückter Gang, wirkt abwesend, nimmt seine Umgebung nicht mehr wahr, lebt und ernährt sich von Downloads aller Art und ist daher stets online; nach dem Load häufig down, unstet, hat trotzdem das Verlangen nach weiteren Downloads. Häufig kommt es zu Abhängigkeit und der Vermischung von realer mit virtuellen Welten; eingeschränktes Urteilsvermögen; leicht manipulierbar, taugt als undoloses Werkzeug. Heute gilt der Homo sapiens als nahezu ausgestorben. Die Existenz einzelner Exemplare kann jedoch nicht ausgeschlossen werden.
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Es wäre doch sicher ein Fortschritt, wenn man dieses Pack nicht leibhaftig vor sich hätte, sondern nur auf einem Monitor, ging es ihr durch den Kopf. Online-Tutorials – war das nicht ohnehin die Zukunft? Alles nur noch ein einziger Chat, und wenn sie es nicht mehr aushielt, so wie heute wieder einmal, könnte sie den Unterricht einfach beenden. Zur Not den Stecker ziehen oder was auch immer.
„Deutschland braucht wieder eine starke Regierung, keine Großkotze, oder wofür stand GroKo nochmal? Ende mit der Erpressung, sollen die Europa- und Bankenscheißer ihr Ding allein machen, irgendwo wird’s für die doch ne Anstalt geben, am besten ne kleine Hochseeinsel mit Haien drum rum – Australien zum Beispiel, die haben doch Erfahrung. Schluss mit den Flüchtlingen, alles Faulenzer oder Terroristen, Schluss mit dem Nachzug ihrer frei erfundenen Großfamilien, die schnell noch ihre Pässe ins Meer schmeißen. Jedem muss klar sein, wo es lang geht. Das meinen Sie doch auch, Frau Sinsheim, oder?“
Das Pausenzeichen. Sie war froh, auf Mirkos Frage nicht mehr antworten zu müssen. Wieder einmal geschafft. Ihre letzte Unterrichtsstunde an diesem Tag. Elvira Sinsheim war vor fünf Jahren aus Mecklenburg-Vorpommern an ein Hamburger Gymnasium gekommen und unterrichtete seitdem Deutsch und Geschichte. Die Untersekundaner, die gerade lärmend und grölend den Klassenraum verließen, ließen sie nicht zum ersten Mal in ihrem Berufsleben daran zweifeln, ob sie nicht lieber etwas anderes hätte machen sollen; etwas, wo es keine Schüler gab und auch sonst keinen Publikumsverkehr. Traurig und erschrocken stellte sie fest, dass sie in der Lage war, Menschen aus tiefstem Herzen zu hassen. Vor allem diesen Mirko Göring, ein schulischer Versager, der es mit seinen zwanzig Jahren mittlerweile fertiggebracht hatte, die Untersekunda zu erreichen. Allein der Nachname. Mit zwei- oder dreiundzwanzig Jahren würde er, wenn er nicht wieder sitzenblieb oder die Schule verlassen musste, sein Abitur haben. Unvorstellbar eigentlich. Hochschulreife. Für einen Fleischklops von guten 1,90 m, blond, blauäugig, mit nahezu kahlgeschorenem Kopf und einem aufgedunsenem rötlichen Gesicht, das Ganze verpackt zumeist in irgendwelchen paramilitärisch anmutenden Klamotten, dazu die Stiefel, die diese Art Menschen bevorzugte. Eigentlich sah er aus wie ein rosa Schwein. Vermutlich war er auch nichts weiter als ein rosa Schwein. Sie erinnerte sich, dass die rechte Szene in ihrer alten Heimat in Anklam viele Anhänger hatte. Verschiedene Gründe hatten sie nach Hamburg geführt, und sie hatte geglaubt, dass es hier von den Rechten weniger gäbe wie überhaupt alles in Hamburg besser sei; vielleicht gab es tatsächlich nicht so viele, aber musste es sein, dass dennoch einer der schlimmsten zusammen mit zwei Mitläufertypen in gerade ihrer Klasse war?
Flüchtlinge und ihre Integration – das war sicher ein Problem. Klar, dass man ihnen irgendwie helfen musste. Sie verstand aber auch die Meinung anderer Leute: Wieso rede man eigentlich ständig von dauerhafter Integration – kehrten Flüchtlinge nicht zurück, wenn es in ihrem Land besser zuging? Auch hielt sie die überbordende, vorbehaltlose Freundlichkeit mancher Zeitgenossen gegenüber allem Fremden für nicht authentisch und in manchen Fällen für nichts weiter als ein Ventil für die quälende Langeweile im Überschussdasein einiger Landsleute, oder als Ausgleich für ein ständig schlechtes Gewissen, wie es den Menschen ständig beigebracht wurde. Ohne Zweifel ein heikles, sensibles Thema; aber mit einem Mirko brauchte sie das nun wirklich nicht zu diskutieren.
Langsam verließ sie das Klassenzimmer und trottete müde über den Gang. Von weitem sah sie bereits Andreas auf sich zukommen und stöhnte leise. Andreas Mühlstein, Lehrer für Chemie und Physik, wie sie ungefähr Anfang vierzig, mit dem leicht schwingenden Gang in der Hüfte, der vielleicht einer Frau gut angestanden hätte, aber nicht blond gedeckelten gefühlten ein Meter fünfundneunzig. Andreas war erst seit einem Jahr Lehrer an dieser Schule, und es hatte nicht lange gedauert, bis er Gefallen an ihr fand und dies auch offen zeigte, obwohl sie kein Interesse an ihm hatte. Sie – das war eine Frau mit dunkelbraunem Haar und ebensolchen Augen, einem fein gezeichneten Gesicht und einer Figur, wie Männer sie sich üblicherweise zu wünschen pflegen. Nicht nur vorzeigbar oder attraktiv – sie war schlicht und einfach schön, selbst wenn sie, wie gerade jetzt, gestresst aussah. Die Inkarnation alles Weiblichen. Nachdem sie ihn vor einem halben Jahr gebeten hatte, er möge sie in Ruhe lassen, war es mit seinen Avancen zunächst tatsächlich vorbei, doch seit zwei Monaten war er wieder aktiv und verstieg sich dazu, ihr in den Pausen, wann immer möglich, regelrecht aufzulauern und sie dann mehr oder weniger plötzlich in Gespräche zu verwickeln. Auch diesmal gab es kein Entrinnen, er hatte sie schon ausgemacht und steuerte zielstrebig auf sie zu.
„Scheiße“, murmelte sie zu sich selbst.
„Elvira, welch ein Zufall, dass ich dich treffe! Fällt dir eigentlich auf, dass wir uns in letzter Zeit ziemlich oft getroffen haben? Wenn Du mich fragst – das ist kein Zufall mehr. Das ist Fügung. Bestimmung.“
Mit vor Freude glänzenden Augen hatte er ihr den Weg versperrt. Arschloch, dachte sie und versuchte, zu lächeln.
„Du, Andreas, ich hab keine Zeit …. Und weißt du eigentlich noch, was ich dir vor einem halben Jahr gesagt habe? Das gilt noch immer.“
„Ach Mensch, Elvira. Du kannst dich doch deinem Schicksal nicht in den Weg stellen“, maulte er mit mitleidvoller Miene, gemischt mit einem Spritzer Humor.
„Doch, kann ich. So wie Du mir den Weg versperrst.“
Mit einer geschickten Drehung stand sie plötzlich hinter seinem Rücken, was ihn nur noch mehr reizte.
„Elegant, elegant. Tanzt Du in deiner Freizeit?“, fragte er, drehte sich wieder zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter.
„Ja, seit ich dich kenne. Veitstanz. Nimmst Du bitte deine Hand da weg?“
Sie wischte seine Hand von der Schulter. Es war wieder wie damals, als er keine Gelegenheit verstreichen ließ, um sie anzufassen oder ihr zumindest nahe zu sein. Sie wurde langsam böse, gleichzeitig kam ihr das Ganze mittlerweile aber auch ein wenig unheimlich vor.
„Gut. Ist ja schon gut.“
Die Freude seiner Augen verschwand.
„Lass uns normal miteinander umgehen. Wie Kollegen eben“, ermunterte sie ihn und setzte ihren Weg fort.
„Ich mag dich nun einmal. Was kann ich denn dafür?“ Die letzten Worte sprach er bereits zu sich selbst. „Am besten schau ich sie gar nicht mehr an, das verursacht mir nur Schmerzen. Augen zu und weiter.“
Missmutig schlurfte er weiter, Richtung Lehrerzimmer. Er wusste nur, dass sie nicht mehr verheiratet war und eine Tochter bei ihr lebte, nicht aber, ob sie einen Freund hatte; aber es hätte ihn nicht interessiert. Das hier war Bestimmung. Mit Frauen hatte er nie Glück gehabt, seine Freundschaften hielten jeweils zwei oder drei Monate, dann ließen sie ihn fallen. Scheißweiber. Er hätte sie ermorden können. Aus einer dieser Verbindungen entstand immerhin etwas Bleibendes, auch wenn es, jedenfalls von seiner Seite, nicht geplant war – sein Sohn Markus, an dem die Mutter kein Interesse hatte und für den er seit langem das Sorgerecht besaß. Was an ihm war denn so furchtbar, dass Frauen es nicht bei ihm aushielten? Oder war er einfach zu hässlich? Er machte einen Abstecher in die Herrentoilette. Dort schnitt er verschiedene Grimassen vor dem Spiegel: ernst, seriös wirkend, ein anderes Mal lachte er aus vollem Halse und bleckte die Zähne. Seine Zähne waren in Ordnung, er ging jedes Jahr zur Durchsicht. Dem Kollegen Raddatz, der gerade die Toilette betrat und ihn verwirrt anstarrte, erklärte er, er habe einmal über sich selbst lachen und sich dabei beobachten wollen; es hieß ja, dass allein durch die Betätigung der für das Lachen zuständigen Gesichtsmuskeln eine Stimmungsverbesserung eintrete, und das wolle er an sich testen. Bevor Raddatz fragen konnte, warum er in schlechter Stimmung sei, war er schon auf dem Weg nach draußen.
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