Am Abend kocht Ellen Spaghetti mit Tomatensoße.
„Sollen wir Carolin holen, damit sie wieder auf die Beine kommt?“, frage ich und lege gleich wieder eine gehörige Portion Gehässigkeit in meine Stimme, damit keiner denkt, dass ihre Lage mich irgendwie trifft oder ich langsam nicht mehr länger warten will, dass sie aufsteht.
„Lass sie noch ein bisschen schlafen. Sie kommt schon von allein und dann mache ich ihr etwas warm“, sagt Ellen und ich habe ein wenig das Gefühl, sie will Carolin meinen Anblick ersparen. Wahrscheinlich hofft sie, dass ich gleich gehe. Aber das kann sie vergessen. Ich will noch ein wenig genießen, dass es Carolin so richtig dreckig geht. Verdient hat sie es.
Es ist Daniel, der meint noch Zigaretten holen zu müssen und mich hochzieht. „Komm Alter, wir drehen noch eine Runde. Die Mädchen kommen schon klar.“
Was soll ich tun? Ich kann ihm nur folgen, wenn ich es nicht so aussehen lassen will, als wäre ich wegen Carolin hier.
Wir fahren zu einem Kiosk in Lüstringen, der immer bis Mitternacht aufhat und Daniel holt sich seine Zigaretten. Er hat es nicht eilig wieder zurückzufahren und ich frage mich, ob er mich nur aus dem Haus haben wollte. Gut, dass mein Mustang bei ihm vor der Tür steht, sonst würde er mich glatt einfach bei mir zu Hause absetzen.
Es ist schon nach acht, als wir wieder bei Daniel auf den Hof fahren.
Wir gehen hoch in seine Wohnung und mein Herz wird etwas unruhig. Ob Carolin noch da ist oder hat Ellen sie aus dem Haus geschmuggelt, während ich mit Daniel Zigaretten kaufte?
„Hallo!“, ruft Daniel und geht vor mir her durch den Flur.
Ellen antwortet: „Wir sind in der Küche.“
Daniel steuert die Küche an und grinst, als er Carolin zusammengekauert mit einer Tasse Tee auf ihrem Stuhl hocken sieht. Ich bleibe nur in der Tür stehen und warte darauf, dass sie mich bemerkt.
„Tee? Vielleicht hilft ein neuer Wodka O-Saft besser“, sagt Daniel und grinst.
„Erwähne das bitte nicht. Da wird mir gleich wieder schlecht“, raunt Carolin betroffen.
Daniel setzt sich auf einen Stuhl und zündet sich eine Zigarette an. Ellen bietet er auch eine an. Zu Carolin sagt er nur: „Du hast schon genug über die Stränge geschlagen“, und gibt ihr keine Zigarette. Sein Blick wandert fragend zu mir und ich schüttele den Kopf.
Carolin folgt seinem Blick und sieht mich in der Tür stehen. Sofort rafft sie sich auf und setzt sich ordentlich hin, ihre Tasse schnell leer trinkend.
„Magst du noch einen?“, fragt Ellen fürsorglich und steht auf, um Carolin einen neuen Tee zu kochen.
Als sie mit der Tasse zum Tisch kommt und sie vor Carolin abstellt, brumme ich: „Da muss noch Zucker rein.“
„Zucker?“, fragt Ellen Carolin.
Die schüttelt nur den Kopf.
„ Die brauch jetzt Energie. Sonst kommt die gar nicht auf die Füße. Die hat bestimmt nicht mal was gegessen“, knurre ich, weil sie einfach nicht tut, was ich sage. Das bringt mich sofort wieder in Rage.
Carolin sieht mich an, als hätte ich sie gerade böse beschimpft. Ich muss mich zusammenreißen, damit mir mein Killerblick nicht abhandenkommt.
Langsam stellt sie die Tasse ab und steht auf. Sie geht an mir vorbei zum Badezimmer und schließt hinter sich ab.
„Kannst du sie nicht einfach in Ruhe lassen?“, zischt Ellen kopfschüttelnd. „Dass du sie hier ständig anpflaumst kann sie echt nicht gebrauchen.“ Sie steht auf und geht auch zum Badezimmer. „Carolin?“, ruft sie. „Alles in Ordnung?“
„Ja, ich komme gleich.“
Ihre weinerliche Stimme versetzt mir einen Dolchstoß.
Um etwas zu tun zu haben, gehe ich zu ihrer Tasse, hole den Teebeutel heraus, greife mir den Zucker und schütte zwei große Löffel voll hinein. Ihn umrührend, stelle ich ihn wieder an ihren Platz. Daniel sieht mir schmunzelt zu.
Ich baue mich wieder an der Tür auf.
Als sie endlich wieder aus dem Badezimmer kommt, schaffe ich es kaum noch, den bösen Gangster zu mimen. Sie ist so blass und wirkt so erschreckend zerbrechlich. Ihre großen Augen mit den langen, schwarzen Wimpern sind auf den Boden gerichtet, als sie an mir vorbeigeht. Sie wirkt so unglaublich traurig, dass es mir fast wehtut.
Sie setzt sich vor ihren Tee und nimmt einen Schluck. Ihr Blick fällt auf Ellen, die nur die Schultern hebt und mich ansieht.
Carolin stellt die Tasse ab, schiebt sie von sich weg und verschränkt aufmüpfig die Arme vor der Brust.
Ich stoße mich von dem Türrahmen ab, als Ellen mir kopfschüttelnd andeutet, dass ich jetzt einfach ruhig bleiben soll. Aber wie soll das gehen, wenn Carolin mich ständig provoziert?
Die dreht sich um und schaut zur Küchenuhr. Sie steht langsam auf und greift nach ihrem Handy, das auf dem Tisch liegt. Ich sehe es jetzt erst und frage mich, warum. Ich hatte es dort nicht liegen gelassen.
„Ich muss jetzt los. Danke für alles“, raunt Carolin und lächelt Ellen und Daniel zu.
Mich ignoriert sie völlig.
Ellen nimmt einen letzten Schluck aus ihrer kleinen Colaflasche und steht auch auf. „Was hast du jetzt vor?“, fragt sie besorgt.
„Ich nehme gleich den letzten Zug. Es wird jetzt echt Zeit. Wir sehen uns morgen in der Schule“, antwortet sie meiner Schwester.
Die sieht Daniel an, dann mich.
Daniel steht auch auf und sagt: „Ich bringe dich hin.“
„Das brauchst du nicht. Ich laufe eben. Das ist gar kein Problem“, meint Carolin und kann kaum stehen.
Sie muss an mir vorbei, um an ihre Sachen zu kommen und ich sehe sie nur an. Meint sie wirklich, sie schafft es so bis zum Bahnhof?
„Ellen, wo sind denn meine Tasche und meine Jacke?“, ruft sie meiner Schwester zu, die aufsteht und ihr alles holt.
„Danke“, murmelt sie und geht wieder an mir vorbei über den Flur zur Wohnungstür.
Ich folge ihr automatisch und Daniel kommt auch hinter uns her. Er will sie zum Bahnhof bringen oder nach Hause. Dass er bei ihr auf einmal so hilfsbereit ist, stört mich wieder gewaltig.
Carolin dreht sich plötzlich um und will etwas sagen. Aber ich bin direkt hinter ihr und sie bleibt erschrocken stehen.
„ Ich bringe dich!“, knurre ich in einem Ton, der keinerlei Widerrede duldet.
„Brauchst du nicht“, antworte sie trotzdem, nicht weniger brummig.
„Das ist mir scheißegal, ob du das willst oder nicht“, murmele ich und versuche, das Tier in mir sich nicht entfesseln zu lassen. Aber das fällt mir immer schwerer. Ich packe sie am Arm und schiebe sie durch die Tür.
Ellen ruft mir hinterher: „Erik, bitte!“ Aber da fällt hinter uns auch schon die Tür ins Schloss.
Ich schiebe Carolin unsanft die Treppe hinunter und zum Auto. Erst als sie auf dem Beifahrersitz sitzt, beruhige ich mich wieder ein wenig.
Ich fahre rückwärts aus der Einfahrt auf die Straße und mit quietschenden Reifen prügele ich den Mustang über den Asphalt Richtung Innenstadt. Sie sieht so aus, als wenn ihr das schon den Rest gibt. Aber sie sagt nichts. Auch nicht, als ich die Bundesstraße Richtung Bramsche nehme.
Sie sieht die ganze Fahrt über aus dem Seitenfenster und ignoriert mich, bis kurz vor ihrem alten Wohnort, wo sie mit Marcel wohnte.
„Lässt du mich bitte in Bramsche beim Bahnhof raus?“, fragt sie leise.
„Warum?“, zische ich mürrisch und sehe sie an. Will sie zu Marcel?
„Ich fahre von da aus mit dem Fahrrad weiter“, erklärt sie noch leiser.
„Vergiss es! Das kannst du morgen holen, wenn es dir bessergeht. Ich bringe dich nach Hause“, brumme ich.
Wir fahren an Bramsche vorbei Richtung Alfhausen. Ich spüre, wie sie unruhig wird und mir sogar einen schnellen, verunsicherten Blick zuwirft. Sie weiß schließlich nicht, dass ich ihr neues Wohndomizil bei Tim kenne.
Als wir in Alfhausen an der Ampel kurz anhalten müssen, wirft sie mir erneut einen Blick zu. Es macht mir fast Spaß, endlich links abzubiegen und zu sehen, wie ihre Augen größer werden. Ich lenke den Mustang bei der Hauptstraße in den Ortskern und bald darauf in eine Seitenstraße, um vor Tims Garage zu parken.
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