Es war herrlich romantisch, der Mond, der sich im Wasser spiegelte, die laue Nacht, die Blätter der alten Bäume säuselten im schwachen Wind, nur das Lachen fröhlicher Menschen und sonst kein Lärm.
Irgendwie kam meine Hand auf Karins Pobacke zu liegen und wurde nicht weggeschoben. Als gehörte sie dorthin, seit ewig. Etwas baute sich auf, wie vor einem Gewitter. Ich hatte einen plötzlichen Schweißausbruch, mein Herz raste.
Keiner von uns stieß einen Schrei aus. Wir waren zu überrascht und zu schockiert, als wir hinter dem Gebüsch über die Leiche von Andrea Frobel stolperten.
Ich war schlagartig ernüchtert und rief Kommissar Keller auf seinem Handy an.
***
Nun standen wir also um Andrea Frobel herum. Mitternacht war längst vorbei. Die polizeiliche Routine lief. Der Polizeiarzt war mit seiner ersten Untersuchung fertig.
»Vergewaltigt?«, fragte Keller.
Doktor Klumpp schüttelte den Kopf. »Sieht nicht so aus. Wenn, dann hat sie sich nicht gewehrt. Keinerlei Spuren von Gewaltanwendung.«
Er packte seine Sachen zusammen und fuhr fort: »Aber sie hatte GV kurz vor ihrem Tod. Ungeschützt.«
Keller guckte erst verblüfft, bis sich ein hämisches Grinsen breitmachte. »Dann hat der Täter wenigstens seine Visitenkarte hinterlassen. Ich werde mich bei ihm bedanken, wenn ich ihn habe.«
»Ich sorge dafür, dass Sie die DNA-Analyse schnellstmöglich bekommen«, versprach der Arzt.
»Was können Sie zum Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Keller.
»Vor ungefähr eineinhalb Stunden«, sagte Dr. Klumpp, »vielleicht auch vor einer. Genaueres wie üblich nach der Obduktion.«
Keller fuhr herum und starrte mich an. Auch ich hatte zurückgerechnet und wusste, was ihm durch den Kopf ging.
Vor etwa einer Stunde hatten wir die Leiche entdeckt. Der Mörder musste an uns vorbeigegangen sein.
Keller grummelte mich an: »Hättest du früher mit dem Turteln begonnen, dann hättest du den Mord verhindert.«
Diese Bemerkung war unsinnig, und das wusste er selbst. Aber ich nahm es ihm nicht übel. Keller war gehörig im Stress. Ich merkte das daran, wie er auf seinem kalten Zigarillo herumkaute.
Bisher hatte er Karin ignoriert, nun fauchte er sie grob an: »Und wer sind Sie eigentlich?«
»Staatsanwältin Karin Brunner«, stellte ich gelassen vor.
Wenn man Keller richtig überraschte, konnte man an jedem Muskel seines zerfurchten Gesichtes ablesen, welche Fortschritte seine Denkarbeit gerade machte. Und jetzt arbeitete sein Gehirn sehr hart. Eine Staatsanwältin? Hier am Tatort? So schnell? Und eine, die er gar nicht kannte?
Ich erlöste ihn.
»Staatsanwältin Karin Brunner aus München, auf Privatbesuch in Schwäbisch Hall«, klärte ich auf.
Keller lockerte sich sichtlich und schaute Karin interessiert an.
»Dann haben wir ja professionelle Hilfe aus der Großstadt«, lächelte er sie an. Tatsächlich, er lächelte. Das sah man selten bei ihm. Gelegentlich grinste er, meistens süffisant, gelegentlich bösartig. Aber lächeln? Ich schrieb das der späten Stunde zu und dem Druck, unter dem er stand.
Der Arzt verabschiedete sich. Keller gab ihm seine Nachtarbeit mit auf den Weg: »Ich brauche die Ergebnisse unbedingt bis morgen früh. Sie wissen, das ist eine ganz besondere Tote.«
Jeder verstand, was er meinte, nur Karin nicht.
»Was ist bei dieser Toten anders als bei anderen?«, fragte sie Keller leicht indigniert.
Ich sprang Keller bei, er hatte genug um die Ohren. »Andrea war bei den Siedern.«
»Das hab ich schon kapiert.«
»Und die Sieder feiern drei Tage lang ihr großes Fest …«
»Deshalb bin ich ja hier.«
»… mit rund 500 Akteuren.«
»Da wird sich doch noch ein Ersatz für diese Andrea finden lassen.«
»Das ist bestimmt nicht das Problem«, meinte ich. »Das liegt woanders. Auf dieses Pfingstwochenende arbeiten die Sieder das ganze Jahr hin. Drei Tage lang sollen sie Stimmung machen und wollen selber fröhlich sein und heftig feiern. Die Stimmung dürfte schon etwas leiden, wenn eine der Ihren ermordet worden ist.«
Glücklicherweise, dachte ich, war es zu spät fürs Lokalblatt. Dann war der Mord wenigstens keine offizielle Sensation, sondern wurde nur unter der Hand weitergeflüstert.
Ich betrachtete die Tote, die gerade in diesen hässlichen Metallsarg gelegt wurde, den wir alle aus den Fernsehkrimis kennen.
Sie war so fröhlich gewesen. Sie hatte zu den Erbsiedern gehört, und sie war stolz darauf gewesen.
Ich wandte mich wieder Karin zu. »Die Sieder sind nicht bloß ein Verein zur Erheiterung der Touristen. Die Sieder sind eine Tradition. Und die nehmen sie verdammt ernst, das wirst du schon noch merken.«
Als der Sarg abtransportiert war, zerstreuten sich auch die Gaffer. Wir ließen uns mittreiben. Nach den Wirrnissen dieser Nacht hätte ich noch einen Schluck vertragen können. In den Kneipen, drinnen wie draußen, tobte immer noch das volle Leben. Lachen, lärmen wie auf einer Piazza in Italien. Es müsste herrlich sein, sich dazuzusetzen, etwas Kühles zu trinken, mitzureden, mitzulachen, unbeschwert die warme Nacht zu genießen. Wenigstens so lange, bis die Nachricht von dem Mord sich verbreitet hatte.
Aber wir waren beide müde und bedrückt. Und unterdessen war es zwei Uhr geworden. Wortkarg gingen wir zurück zum »Goldenen Adler«.
»Noch einen Absacker?«, fragte ich.
Karin schüttelte den Kopf.
»Bei mir?«
»Nein. Es ist zu spät.«
Vielleicht hatte sie recht.
Wir verabschiedeten uns züchtig mit Küsschen links, Küsschen rechts. Jegliche romantische Anwandlung war vergangen.
***
Zu Hause öffnete ich dann doch noch eine Flasche. Stettener Brotwasser, ein Riesling aus dem Weingut des Hauses Württemberg, ein adliger Wein sozusagen. Den hatte ich schon lange nicht mehr getrunken. Er war schön kühl.
Der Name hatte mir schon immer gefallen. Wenn man von Wasser und Brot leben müsste, dann so. Aber früher hatte er mehr Bodag’fährtle, fand ich, schmeckte also mehr nach dem Schilfsandstein, auf dem er wuchs. Lag das am Wein oder an mir? Oder trog die Erinnerung? Wie die Erinnerung auch die schönen Zeiten mit Karin verklärte und die weniger schönen ausblendete? Wie ich bei Roswitha nur an das Unangenehme dachte, das Misstrauen, die Diskussionen?
Gegen meine Gefühlsverwirrungen kam auch der Riesling nicht an.
Ich löschte das Licht, zog mich aus und stellte mich mit dem Glas in der Hand ans offene Fenster.
Kein Lufthauch war zu spüren. Ich kann dem Klimawandel, der uns versprochen wird, durchaus etwas abgewinnen: lieber schwitzen als frieren. Aber jetzt war es sogar mir zu viel. Wie unter einer Glocke hing die Schwüle in der Stadt, selbst um diese Zeit noch.
In der Gelbinger Gasse war es ruhig. Die Eisdiele hatte längst geschlossen. Ab und an kamen ein paar Leute zurück vom Feiern. Still und sachte schwankend die einen, fröhlich und lachend andere.
Fast überall in der Straße standen die Fenster offen und trugen die Geräusche der Nacht hinaus, die sonst in der Häuslichkeit eingeschlossen blieben. Das Schnarchen und Röcheln von Menschen, die sich unruhig im Schlaf wälzten. Kein Keuchen und Stöhnen, dazu war es zu spät oder zu schwül, wer wollte bei diesen Temperaturen schon größere Anstrengungen auf sich nehmen?
Im Haus gegenüber ging im zweiten Stock ein Licht an. Rita und Jörg. Das Paar wohnte schon lange dort, beide Lehrer und etwas älter als ich. Mit Jörg saß ich oft zusammen, wir goutierten die Schätze unserer beider Weinkeller. Bald danach ging das Licht wieder aus.
Im Gästezimmer sägte Tante Olga friedlich vor sich hin. Sie hatte wirklich einen gesunden Schlaf und mich nicht gehört. Glücklicherweise. Ich hatte absolut keine Lust, ihr von dem Mord zu erzählen.
Das Brotwasser in der Flasche wurde weniger, und die Fragen nahmen zu.
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