Fast 16 Jahre (!) sollten dennoch vergehen bis mein Vater an seinem großangelegten Epocheroman weiter schrieb. Weitere zehn Jahre dauerte es dann bis zur Beendigung des 5.Buches.
Bedingt durch den Tod meiner Mutter im Oktober 1996, seiner geliebten Ehefrau, die er, seit der Schulzeit kannte und fast fünfzig Jahre zusammenlebte, hatte er jahrelang an diesem Roman nicht schreiben können. Er brauchte sehr viele Jahre um sich vor diesem Schicksalschlag zumindest etwas zu erholen. Viele Trauergedichte entstanden bis er sich mit der im Jahre 2003 veröffentlichten Erzählung "Verdämmerung", wie er sagte frei schrieb. Im gleichen Jahr, gelang es ihm auch seinen Roman " Nach dem großen Aufstand" zu veröffentlichen.
Nun war er bereit, wie er meinte, seine Geschichte von Menschen weiterzuerzählen: "Schlicht oder verschlungen, vielgestaltig oder einfach, im Lärm großer gesellschaftlicher Prozesse oder in der Stille der Einsamkeit, und das stets so, daß man sich in meinem Text wie in einem Spiegel wiedererkennen und vielleicht sogar mit dem dort gezeigten Bildern identifizieren kann." (In: "Spur des Lebens", S. 127) Das aber war für ihn nur möglich "auf der Höhe der Zeit und in der Breite des Raums und - mit einer lesbaren - volks verbundenen Prosa." (ebenda, S. 127)
Die Handlung des 5. Buches "Plebejers Unzeit oder Spiel zu dritt" verläuft in den siebziger Jahren. "Im Mittelpunkt stehen Achim und Ulrike, in der Gefährdung oder Bewährung ihrer Ehe. Den Hauptschauplatz nenne ich die Kunstindustrie, konkret die DEFA in Babelsberg und in Berlin. Eine Erzählung Achims, deren Inhalt teilweise in seinem Prosastil mitgeteilt wird, wird verfilmt, wobei als Vorlage meine Erfahrungen seinerzeit vom Szenarium bis zu den Dreharbeiten bei der "Spur der Steine" dienen. Daraus ergeben sich Begegnungen unterschiedlicher Art, mit den Akteuren, den Funktionären, den Ästhetikern. Zugleich ist Achim bereits im Wissenschaftsinstitut für Genforschung angekommen und unternimmt dort die ersten molekularbiologischen Experimente an der Drosophila. Ulrike wird an ihrem nicht weniger wichtigen Handlungsort gezeigt, der Zehnklassenschule, wo es ebenfalls zu Konflikten kommt." (In: "Spur des Lebens", S. 222 - 223)
2006 äußerte sich mein Vater, er hatte gerade seine eigene Stiftung unter dem Dach der Rosa-Luxemburg-Stiftung gegründet, endlich auch wieder in der Öffentlichkeit zu seinem großen Vorhaben. So las ich im Interview der "Märkischen Allgemeinen", es war an seinem 75. Geburtstag, am 21.Juni 2006: "Inzwischen ist ja das Thema von "Friede im Osten" auch historisch, denn in den Büchern wird die DDR bis zu ihrem Niedergang beschrieben. Ursprünglich wollte ich den Roman 1985 enden lassen, zu einem Zeitpunkt, als ich meine Ideale vom Sozialismus in der Realität zunehmend beschädigt fand. Aber nun will ich die Geschichte bis `89 weiterführen." (In: "Märkische Allgemeine", 21.06.2006, S.7)
Es freute mich, dass er wieder mehr, dabei hatte er die Unterstützung seiner Stiftung, in der Öffentlichkeit auftrat und aus seinem 5. Buch las. Er begegnete somit auch wieder seinen Lesern und erlebte viele interessante Diskussionen.
Seit dem Weiterschreiben am 5. Buch gab es zwei längere Unterbrechungen. Was waren die Gründe dafür?
Im Januar 2009 war mein Vater plötzlich mit einem ganz anderen Projekt beschäftigt. Sein ehemaliger Lektor, Klaus Walther, äußerte sich dazu: "Gegen Ende des Jahres 2008 klingelte mein Telefon. Es war Klaus Höpcke. Wir kannten uns gut aus der Zeit als Verlagslektor und waren uns auch später bei literarischen Gelegenheiten begegnet. Er fragte mich, ob ich die Reihe der Gesprächsbücher des Verlags Das Neue Berlin kenne, in der gerade, nach dem Band mit Hermann Kant, ein weiteres Buch von Irmtraud Gutschke mit Eva Strittmatter erschienen war. Ich bejahte, und er fragte, ob ich mir vorstellen könne, ein solches Gespräch mit Erik Neutsch zu führen. Ich war ja in meiner Zeit im Mitteldeutschen Verlag etliche Jahre sein Lektor gewesen. Nach der Wende hatten wir uns aus, wie ich heute denke, Missverständnissen entfremdet, es herrschte zwischen uns Funkstille. Ich bat mir ein paar Tage Bedenkzeit aus und fragte, ob denn Erik Neutsch einem solchen Gesprächspartner zustimmen würde. Ja, sagte Klaus Höpcke, das würde er. So kamen wir nach Jahren wieder zusammen." (In: "Spur des Lebens" , "Eine Vorgeschichte" von Klaus Walther, S.5) Mein Vater hatte sich von Klaus Höpcke, der übrigens von 1973 bis 1989 stellvertretender Kulturminister der DDR war, und beide kannten sich schon seit ihrer Studentenzeit in Leipzig, für dieses Gesprächsbuch überzeugen lassen.
Durch dieses Buch wurden viele Gedanken und viele Erlebnisse, auch Familiäre, festgehalten. Es macht neugierig auf Neutsch Bücher. Damit ist "Spur des Lebens" ein wertvolles Zeitdokument. Ich nutze es für dieses Buch. Aber andererseits hat dieses "Biografiebuch", wie ich es nenne, das 2010 erschien, ihm fast zwei Jahre Zeit gekostet! Wie ich meine, wertvolle Zeit, die ihm für die Vollendung des Romanzyklus fehlte. Er verglich übrigens seine Arbeitsleistung an diesem Buch mit dem Umfang einer Dissertationsarbeit, auch wenn es "nur" über sich war. Aber diese Feststellung von ihm selbst sagt wohl genug aus.
Kaum aber war das Buch "Spur des Lebens" beendet, nahm ihn eine andere, sicher auch sehr interessante Aufgabe, in Anspruch. Anlässlich seines 80. Geburtstages 2011, hatten er und der Vorstand seiner Stiftung die Idee, einen Erik-Neutsch-Literaturwettbewerb für junge Nachwuchsautoren auszuschreiben. Zu diesem Zeitpunkt ahnte mein Vater noch nicht, wie viel Arbeit damit auf ihn zukommen würde. Jedenfalls wurde er nun wieder vom Schreiben am 5. Buch abgehalten.
Die Erzählungen der jungen Autoren haben ihn damals allerdings sehr nachdenklich gemacht. Teilweise war er regelrecht erschüttert, über welche schlimmen Erlebnisse sie in ihren Geschichten geschrieben haben, die sie meist erlebt hatten, und meinte zu mir: "Was mussten diese jungen Leute nicht schon alles ertragen!" Und wie es so seine Art war, schimpfte er sofort auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände in diesem Land. Er war glücklich, wie er immer betonte, eine andere Zeit kennengelernt zu haben.
Am 30.November 2012 fand die feierliche Preisverleihung dieses literarischen Wettbewerbs im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin statt. Mein Vater war an jenem Abend sehr aufgeregt. Bestärkt wurde dies noch durch den Sachverhalt, dass die Veranstaltung etwa eine halbe Stunde später beginnen musste. In einer der Tageszeitungen in Berlin wurde die Veranstaltung mit einem anderen Ort angegeben. Nun hoffte man noch auf die angeblich "verirrten" Gäste. Aber fehlgeschlagen. Es blieb bei den wenigen Zuhörern, darunter wir, ein kleiner Teil der Familie.
Mein Vater sprach als Stifter die Begrüßungsworte und begründete seine Vorstellungen für diesen ausgeschriebenen Preis, der vielleicht, so seine Hoffnung, in der Zukunft in regelmäßigen Abständen für junge literarische Schreiber vergeben werden sollte. Er erinnerte sich in seiner Rede an seine Anfangszeit des Schreibens, vor allen Dingen an die für ihn so mutmachenden Worte von Anna Seghers. Nun aber, da er die 80 bereits überschritten hatte, wollte er auch junge Leute unterstützen, vor allen Dingen solche, die die Welt kritisch betrachten. Ihnen wollte er Mut machen zum Weiterschreiben.
Aber er nahm auch, wie konnte es anders bei ihm sein, diese Gelegenheit seines öffentlichen Auftretens natürlich beim "Schopfe" und kritisierte u.a. auch die Medien, die sich zwar links sahen, aber nach seiner Auffassung waren sie weit davon entfernt. Er ging auf seine Zeit als Kulturredakteur in der Zeitung "Freiheit" in Halle ein und zog dann einen großen Bogen bis hin zur Gegenwart.
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