Als dann die Übermacht der deutschen Kampftruppen, allen voran die SS-Standarte „Deutschland“, etwa Mitte Mai einen Durchbruch der alliierten Verteidigungslinien beim Sloedam - Deich bewirkte, war weiterer Widerstand zwecklos. Und waren die zur Hilfe geeilten französischen und englischen Truppen gezwungen sich mittels einer Armada von grösseren und kleineren Schiffen über die Westerschelde in Richtung Dünkirchen abzusetzen.
Das konnte ich natürlich alles prima sehen von meinem erhöhten Aussichtspunkt am Vorderschiff und ich erinnere mich noch gut als etwas später deutsche Soldaten oben am Bugausguck von Baunummer 214 auftauchten und von der herrlichen Fernsicht schwärmten: „Und da hinten liegt England“. Als einfache Schiffsniete war ich von soviel militärischer „Deutungshoheit“ dann doch ziemlich erheitert. Wobei die ja nicht wussten, dass ich mithörte …!
Allerdings bewunderten die Soldaten auch den imposanten, fast fertig gebauten Schiffsrumpf der späteren Willem Ruys „hoch über den Dächern“ und lobten sie die niederländischen Schiffsbauer in höchsten Tönen für das was sie sahen. Da war ich dann wieder etwas beruhigt und sagte zu meinem Schiff: „So schlimm wird es wohl nicht werden“.
Als die Deutschen am 17. Mai 1940 Vlissingen besetzten, war der Bau von Baunummer 214 samt ihren 11 Decks schon ziemlich weit fortgeschritten. Die Scheldearbeiter waren damit beschäftigt die Kabinen einzubauen und auch die von den Schweizer Firma Sulzer gelieferten 8 Dieselmotoren standen zum Einbau bereit. Dennoch war ich ein wenig beunruhigt, als es hiess, dass der Auftraggeber Baunummer 214 eventuell zu Wasser lassen und nach Rotterdam verlegen könnte
Doch das wollte die Vlissinger Werftdirektion partout nicht, weil sie davon ausging, dass das Schiff im Wasser viel gefährdeter wäre als oben auf der Helling stehend. Sie konnte sich durchsetzen und um das Gleichgewicht des Schiffs es zu stabilisieren, wurden die Kielblöcke gar eingemauert und Sand als Ballast geladen.
Das sollte sich als solide Entscheidung herausstellen, nicht zuletzt auch da bereits vor dem Einmarsch der deutschen Truppen ein sehr guter Auftragsbestand vorhanden war. Und dieser sollte sich noch verbessern,.als zu meinem grossen Erstaunen jetzt auch Aufträge von deutscher Seite erfolgen sollten. Besonders die deutsche Marine tat sich dabei hervor und Ende 1940 wurden gar 9 kleinere Kriegsschiffe bestellt. Auch gab es Unterhaltsaufträge für deutsche Marineschiffe und wurden gar Flugzeugflügel und Bestandteile für den Atlantikwall in Auftrag gegeben.
Denn der Rubel musste ja weiter rollen: Die KMS-Schiffswerft war ja nun schon seit bald 150 Jahren überaus eng mit der Wirtschaft der Stadt Vlissingen verbunden und 1940 arbeiteten nicht weniger als 3900 Personen für die Werft. Natürlich fragte ich mich als engagierte Schiffsniete, ob das Ganze nicht doch eine Art von Kollaboration mit dem Feind war - aber zu dieser Zeit war das zweitrangig. Hauptsache Arbeit, besonders für die Willem Ruys, und auf diese Weise wohl auch keine drohende Deportationsmöglichkeit der Arbeiter nach Deutschland - denn das hing immer wie ein Damoklesschwert über die Beschäftigten, aus welchen Gründen auch immer.
Trotzdem balancierten in den Kriegsjahren auf diese Weise Einwohner und Scheldepersonal zwischen Leben und Tod - denn jetzt fingen ja die Alliierten an zurückzuschlagen. Vlissingen sollte in den Kriegsjahren zu einem der am meisten bombardierten Städte der Niederlande werden mit insgesamt fast 350 Toten - und ständig war Fliegeralarm. Und obwohl ich da oben in der Nase des Schiffes gut aufgehoben war, nervte mich das Sirenengeheul auch auf der Werft selbst doch ziemlich. Der Alarm war allerdings oft berechtigt, denn es gab in jenen Kriegsjahren mehr als 80 Bombardements und die Stadt mit ihrem grossen Hafengelände sollte deswegen allmählich zu einer Art Festung ausgebaut werden.
Und so konnte ich von meinem Aussichtspunkt sehen, wie für den neu geplanten Atlantikwall überall schwere Bunker, Panzersperren und Flakstellungen hochgezogen wurden. Aber auch war zu sehen, dass auf den Boulevards und Stränden fast gar keine Menschen mehr unterwegs waren, da dies inzwischen verboten worden war. Ein wahrlich ganz krasser Unterschied zu den schönen Tagen nach meiner Einnietung, als ich überall emsige Betriebsamkeit auf den Vlissinger Strassen aber auch auf der Westerschelde nach Antwerpen hatte beobachten können.
Und auch auf der Scheldewerft selbst wurde es allmählicher ungemütlicher als es dort zu verschiedenen Konfrontationen mit den deutschen Besetzern kam. Bereits im Herbst 1942 gab es auch viel Unruhe wegen der Gründung einer neuen, von deutscher Seite diktierten Arbeitergewerkschaft und Anfang 1943 eskalierte das Ganze dann im Rahmen eines nationalen Streiks, die „melkstaking“, also Milchstreik, genannt wurde. Und darauf zurückging, dass auch die niederländischen Bauern streikten und keine Milch mehr lieferten, ja gar auf den Feldern ausgossen.
Da die Scheldewerft inzwischen zur „Kriegsindustrie“ erklärt worden war, wurde das Scheldeterrain darauf durchgehend von deutschen Truppen umstellt, sodass es den streikende Arbeitern nicht mehr möglich war die Fabriken und Schiffshellingen zu verlassen. Die ratternden Niethämmer verstummten und es war nichts mehr zu hören auf der Werft. Und obwohl ich als Schiffsniete meinen Platz ja sowieso nicht verlassen konnte, fühlte ich mich da hoch oben dennoch seltsam solidarisch mit den Streikenden - und wobei mir das laute Schifsfsnietenspektakel doch sehr fehlte.
Die deutsche Seite ging mit viel militärischem Druck gegen die Streikenden vor und so wurden gar Maschinengewehre aufgestellt mit der Drohung, dass man sämtliche Streikführer vor den Augen der Belegschaft erschiessen würde, wenn bis zum erstem Mai 1943 die Arbeit nicht wieder aufgenommen werden sollte.
Das wirkte und der Scheldestreik wurde notgezwungen beendet, genau so wie in den übrigen Niederlanden. Ab da gingen viele Holländer in den Untergrund oder tauchten unter um der gefürchteten, immer drohenden Deportation nach Deutschland zu entkommen. Dies war auch in Vlissingen so und speziell unter den Scheldearbeitern gab es immer mehr Widerstand mittels allerhand gewagter Untergrundaktivitäten.
So wurde nicht nur das Arbeitstempo mehr oder weniger gedrosselt sondern fand fast offene Sabotage statt, indem von den 8 bereitstehenden Sulzer-Dieselmotoren nur 4 eingebaut und die übrigen 4 unter den Augen der Besatzer nach Dordrecht transportiert und dort versteckt wurden. Die zahlreichen Fässer mit Schafsfett für das Gleiten des Schiffes auf der Hellingbahn sowie allerhand Arbeitsmaterial für den Fertigbau des Schiffsrumpfes, wie Materialien für die elektrische Installationen und Schiffsfarbe, wurden in separate Räumlichkeiten verbracht, die anschliessend zugeschweisst wurden.
Ich hörte da hoch oben, dass diese Art von „gebremster“ Sabotage - denn das war es ja nun offensichtlich - einerseits begründet wurde mit der Befürchtung, dass die Deutschen das Schiff letztendlich doch beschlagnahmen könnten aber andererseits auch wieder mit der Möglichkeit den Werftbetrieb irgendwie weiterlaufen zu lassen. Und auf diese Weise die Arbeiter und Fachkräfte unverzichtbar zu machen, sei für einen allfälligen Weiterbau des Schiffes als deutscher Flugzeugträger (da staunte ich dann doch sehr), sei es um eine Entsendung in die deutsche Kriegsindustrie zu vermeiden: „Einen Tanz auf den Vulkan“, sozusagen!
Dazu gehörte auch, dass schon einige Monate vor der D-Day-Landung der Alliierten in der Bretagne am 6. Juni 1944 fast 2000 kg Explosiven zum Scheldeterrain gebracht worden waren. Und nicht nur entsprechenden Pläne zur Sprengung der Helling samt Baunumer 214 ausgearbeitet sondern auch im Schiffskörper selbst viele Sprengladungen höchster Effektivität installiert wurden.
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