Ich fahre mit stoischer Entschlossenheit zu meiner Agentur. Die Pflicht lenkt ab von all den Dingen, die ohne irgendeine Entscheidung meinerseits so gekommen wären, wie sie gekommen sind.
Berge von Papier stapeln sich auf dem Schreibtisch. Die Arbeitsräume sind noch verwaist. Mein Blick schweift nicht sehr interessiert über den Berg an Post, der sich angehäuft hat, weil ich tags zuvor einen Grund hatte, nicht im Dienst zu erscheinen. Routiniert sortiere ich die Geschäftspost von den übrigen Eingängen und räume den Ordner mit den aktuellen Unterlagen zurück an seinen Platz. Den lege ich seit kurzem vorsorglich allabendlich bereit. Es könnte schließlich sein, dass ich eines Morgens nicht erscheine. In diesen Dingen bin ich sehr penibel, dennoch bedeutet mir mein Beruf keinesfalls mehr als meine Familie, wie Peter neuerlich behauptet hat.
Hier und da blättere ich lustlos herum, ehe ich den Stapel von Werbeangeboten rigoros in den Papierkorb zu meinen Füßen befördere. Der Ärger über die Reizüberflutung durch Werbung macht mich zuweilen kurzatmig, erst recht, weil ich dazugehöre zu dieser Zunft. Dagegen anzukämpfen, hieße gegen den Strom zu rudern.
An der Projektwand leuchtete das Rot der neuen Image-Broschüre für einen Kunden. Meine Agentur N.JOY hat seit ein paar Wochen daran gearbeitet, nun liegt das Ergebnis zur Bestätigung vor. Die Kollegen wollen mich damit todsicher überraschen. Keine Frage. Ich habe ein gutes Team. Dennoch beschleicht mich zuweilen deshalb ein Zweifel. Nicht weil ich glaube, sie würden die Sache nicht beherrschen, wenn ich nicht mehr dahinter stehe. Es sind die nebensächlichen Dinge. Kreative sind verträumt, entrückt, schusselig im Umgang mit den profanen Objekten des Lebens, blind für lauernde Gefahren. Schon oft habe ich den Kaffeeautomaten ausgeschaltet, die summenden Ventilatoren vom Netz getrennt, wenn ich nach einem Meeting bei einem Kunden spätabends noch einmal in der verwaisten Agentur nach dem Rechten gesehen habe.
Das Bürohaus mitten in der Stadt gibt zehn Firmen eine Adresse. Eine Katastrophe, welcher Art auch immer, wäre nicht auszudenken. Meine Ermahnungen tags darauf fielen bislang immer glimpflich aus. Zu glimpflich? Sollte man strafen? Sollte man belehren? Ich strafe auch meinen Sohn nicht. Ich versuche stets, ihn mit den Konsequenzen zu konfrontieren. Auch hier habe ich nicht nur reife, mündige Menschen um mich herum, sondern Wesen mit einer Seele. Die Kollegen sind sehr dankbar über die ausgeglichene Atmosphäre, auf die ich großen Wert lege. Die Leute pflegen ihrerseits ein ebenso gutes Verhältnis zu mir. Nur eine kleine, kaum vernehmbare Distanz entspringt der Achtung, die mir von allen gezollt wird. Ist es die Achtung, die mich noch immer die Strapaze eines langen Arbeitstages ertragen lässt?
Ich atme tief durch. Im Grunde bin ich ungeeignet für die straffe, energische Führung. Gottlob weiß mein Team nichts von der Mühe, mit der ich gegen meine Natur leite. Gottlob weiß es so manch anderer nicht. Würde einer von ihnen spüren, wie ich mich plage … und sei es nur die Plage, die gebotene Würde auszustrahlen.
Werde ich heute zur notwendigen Konsequenz finden?
Ich wusste schon bei Nacht, wie dieser Tag aussehen wird: Wie jeder Tag nach einer unverhofften Abwesenheit von mir. Sie würden alle so tun, als sei nichts für sie so interessant, wie das Befinden der Chefin. Dabei sitzen sie wie auf Kohlen, um mir dieses oder jenes Problem unterzujubeln. So gut, wie jede kleine Auszeit tut, so gut weiß ich schließlich, was früher die Tage ohne Auswertungen, ohne Anweisungen für mich waren. Dass der gestrige anders verlaufen ist, ist nicht die Schuld meiner Leute.
Für eine Weile nehmen mich die Rechnungen in Beschlag. Zum Glück gibt es dafür einen externen Buchhalter. Dann prüfe ich den Terminplaner. Zehn Uhr der erste Termin — A. Hawn, Psychotherapeutin – steht darin. Das hatte ich selbst eingetragen. Vielleicht eine Vermittlung durch Mona? Erinnern kann ich mich nicht.
Gewöhnlich gehe ich einigermaßen wissend in die Erstgespräche mit einem potentiellen Kunden. In den letzten Tagen hatte ich keinen Nerv, mich mit derartigen Hintergründen wie dem Heilmittelwerbegesetz zu beschäftigen. Ich war zu abgelenkt, nicht nur von jenem Abend, auch von bedeutungsschweren Dingen des Lebens. Einen Augenaufschlag lang bin ich abgelenkt, fühle etwas in mir, das ich nicht deuten kann. Irgendetwas gerät durcheinander… Ich muss mich konzentrieren…
Eine Psychotherapeutin namens Hawn will Werbung für ihre Praxis machen. Das ist nicht nur Neuland für die Agentur. Mir kommt es immerhin ungewöhnlich vor, dass sich jemand aus der Heilpraktiker-Branche aus freien Stücken an die N.JOY wendet. Dahinter kann nur Mona stecken. Andererseits geht mir der Name nicht gut von den Lippen. Irgendetwas blockiert meine sprichwörtliche Nachsicht mit Monas Heimlichtuerei.
Nach zehn Uhr ist es mit der Ruhe in den Arbeitsräumen vorbei. Die Kollegen haben ihr Frühstück beendet, an dem ich mich Lasse zuliebe nicht beteilige. Zu viel liegt mir an der halben Stunde mit Lasse – früher kam freilich Peter dazu.
Ein leises Schnaufen verrät, dass jemand in der Tür steht und nervös seine Hände reibt.
»Jetzt nicht mehr Britta«, sage ich. Es fällt in der Tat etwas herrisch aus, etwas ungeduldig.
Britta ist eine meiner beiden Mitarbeiterinnen. Leider bringt sie zu wenig Eigenes hervor, weshalb man sie leicht übersehen kann. Nur wenn sie beklagen darf, wie sehr ihre ganz private Erwartung enttäuscht worden ist, sprudelt es aus Britta heraus. Dann hilft es nicht, ihre Erwartungen korrigieren zu wollen, das enttäuscht Britta doppelt. Wie sehr ich mir bis vor kurzem noch wünschte, mehr Zeit für Gespräche, mehr Muße für die persönlichen Sorgen meiner Leute zu haben, einmal fachliche Ansichten kontrovers auszudiskutieren, das behalte ich für mich. Es ist kein trügerisches Gefühl, dafür Wichtiges vernachlässigen zu müssen. So ist das Leben. Es ließe sich so vieles ändern, aber dafür ist es leider zu spät…
»Aber ich muss…«, zischt Britta.
Auch wenn sie sehr nerven kann, es ist nicht ihretwegen. Wenn ich mich geschäftig gebe, dann ist es nicht gelogen. Die Zeit drängt einfach.
Es gibt im kleinen Team gewisse Zeichen, die man sich in solchen Situationen gegenseitig sendet. Vor langen Erklärungen scheut sich jeder. Den Finger zu heben ist leichter. Das erstickt jedes Gegenargument im Keime. Ich hebe heute zwei Finger.
»Ja, ja … ich fasse mich kurz!« Wenn Britta mault, dann geht es ihr so lala. Meistens zieht sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und schmollt lange. Viel zu lange. Als sie losgeworden ist, was sie bewegt hat, schaue ich ihr hinterher. Im Stillen danke ich dem alten Konfuzius für seine Weisheiten, an die ich Britta erinnern musste. Trotzdem ist nicht anzunehmen, dass sie jetzt selbst nachdenkt, so, wie es Konfuzius als den edelsten Weg bezeichnete, ein Ziel zu erreichen. Es ist aber anzunehmen, dass sie an diesem Tag nicht noch einmal mit dem gleichen Problem in der Tür steht.
Wie ich erst später bemerke, wiederholt Britta, anstatt an ihren Arbeitsplatz zu gehen, ihre Frage im Nebenzimmer zu Christoph. Der sitzt vor seiner Datei. Jeder weiß, Chris kann Störungen dieser Art nicht ausstehen. Am wenigsten von Britta.
Christoph ist der Designer meiner Agentur. Jung genug, um unkonventionelle Wege zu beschreiten, und alt genug, um ein Tabu zu akzeptieren. Der dunkle Spitzbart im blassen Gesicht lässt ihn älter erscheinen. Sein steifer Gang wie auch die schwarze Baskenmütze erinnern eher an einen Pastor als an einen «abgefahrenen» Werbedesigner. Seine jugendlich sprunghafte Kreativität braucht trotz ständiger Kompromisse, zu denen ich gerne bereit bin, noch sehr viel Führung. Zu guter Letzt kommt immer ein bemerkenswertes Ergebnis zustande. Nur das zählt.
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