„Wir fahren ins Westend, noble Gegend. Passieren dort auch Verbrechen? In diesem Teil von Frankfurt wohnen doch nur reiche Leute. Keine nette Lösung, die Ehefrau die Treppe hinunter zu schubsen“, lästerte er so vor sich hin.
Hanna blinzelte ihn von der Seite an.
„Kannst beruhigt sein, so einfach wird der Fall nicht zu lösen sein. Der Ehemann war nicht zu Hause. Die Fassaden in dieser Gegend sind zwar glanzvoller als anderswo, aber dahinter tobt der gleiche Kampf um Liebe und Hass. Außerdem geht es in noblen Gegenden meist um Geld, viel Geld. Vielleicht war das der Grund.“
Hanna überquerte die Miquelallee und wählte die Spur zum Reuterweg, in den sie an der nächsten Ampel einbog. Wenige Minuten später erreichten sie das Haus im Westend. Sie parkte vor einer stilvollen Villa, die der Eigentümer in Mietwohnungen umgebaut hatte. Das Haus stand mit Abstand zu den Nachbarn und war von einem großen Grundstück umgeben. An die Zaunanlage waren nachträglich drei Briefkästen montiert worden. Vor der Garageneinfahrt stand der Notarztwagen. Hanna parkte hinter dem Transporter. Die Kriminalbeamten stiegen aus und liefen die Einfahrt hoch. Die Haustür wurde schon geöffnet, bevor sie das Gebäude erreicht hatten. Ein Mann im roten Rettungs-Anorak kam auf sie zugelaufen.
„Morgen mein Name ist Münster. Ich bin der Notarzt. Der Unfall hat sonderbar auf mich gewirkt. Nach Auskunft der Schwester war die Verunfallte am Samstag und Sonntag allein in ihrer Wohnung. Der Ehemann ist auf Geschäftsreise.“
„Ist die Pflegerin noch da?
„Ja, sie wartet im Wohnzimmer.“
Hanna sprang die wenigen Stufen bis zum Eingang hoch und betrat das kleine Treppenhaus. Die Eingangstür der Erdgeschosswohnung stand offen. Der Flur führte direkt in den Wohnraum. Eine Frau im weißen Kittel saß auf der Ledercouch. Sie hielt den Kopf in die Hände gestützt. Als die Beamten das Zimmer betraten, sah sie erschrocken auf. Sie war blass im Gesicht und drückte vor Aufregung ihr Taschentuch von einer Hand in die andere. Bevor sie überhaupt reden konnte, musste sie sich die Nase schnäuzen. Dann stammelte sie:
„Ich habe Frau Sager heute Morgen gegen neun Uhr gefunden. Sie war nicht im Wohnzimmer, aber die Terrassentür stand offen. Ich lief in den Garten und rief nach ihr, doch es antwortete niemand. Dann bin ich wieder ins Haus gegangen und habe nach ihr gesucht. Alles sah wie immer aus, aber sie war auch nicht in ihrem Schlafzimmer. Ich bekam Angst. Erst als ich das zweite Mal im Garten nachsah, habe ich sie entdeckt.“
„Mein Name ist Wolf, Kripo Frankfurt. Können Sie uns die Stelle bitte zeigen?“
Die Schwester hielt sich die Hand vor die Brust und flüsterte: „Ja.“
Sie stand auf und Hanna ging mit ihr zusammen nach draußen. Der Eingang zum Keller lag auf der rechten Seite des Gebäudes. Es führten sechszehn Steinstufen in die Tiefe. Vor der Tür zum Kellereingang war ein kleiner Vorplatz. Die Tote lag unter ihrem Rollstuhl auf dem Betonboden. Ihr Kopf war durch den Sturz mehrfach aufgeschlagen. An der rechten Seite des Schädels klaffte eine große offene Wunde. Arme und Beine schienen gebrochen zu sein. Es sah aus, als wenn jemand den leblosen Körper zusammengefaltet hätte.
In der Nacht hatte es geregnet, aber auf dem Boden konnte man noch einen dunklen Fleck erkennen. Vermutlich war sie vor Beginn des Regens gestürzt. An Armen und Beinen gab es zahlreiche Schürfwunden. Ihre Fingerkuppen waren blutig aufgerissen. Sie trug einen blauen Bademantel und hatte darunter nur Unterwäsche an.
Hanna stieg die Stufen hinab. Man konnte leicht erkennen, dass die Frau schon länger dort lag. Sie sah steif und blutleer aus. Ihr Unterkiefer war nach unten gerutscht. Sie starrte mit vor Schreck aufgerissenen Augen in den Himmel. An ihren Füßen und Unterschenkeln waren blauviolette Flecken. Alles in allem ein scheußlicher Anblick. Hanna drehte sich um:
„Alles Weitere überlassen wir der Spurensicherung. Wir brauchen Fotos aus allen Blickwinkeln. Die Tote muss zur Obduktion ins Institut gebracht werden. Mal sehen, was die Pathologen zu dem Unfallgeschehen sagen können.“
Hanna Wolf ging die Stufen wieder hoch. Die Pflegerin stand abseits. Sie hatte sich an die Hauswand gelehnt und atmete schwer. Die Kommissarin ging auf sie zu:
„Wie heißen Sie?“
„Waltraud Roth. Ich arbeite für den Pflegedienst Zuhause.“
„Wir benötigen den Namen der Schwester, die als letzte die Frau lebend gesehen hat. Außerdem, wer ist der Besitzer der Firma?“, wollte Hanna wissen.
„Es ist Verena Schneider.“
Schwester Waltraud nahm eine Visitenkarte aus ihrer Kitteltasche und überreichte sie der Kommissarin:
„Wir betreuen Frau Sager schon seit zwei Jahren. Ich glaube, Schwester Franziska hat sie am Freitag versorgt.“
Hanna hielt inne. Den Namen hatte sie doch kürzlich schon mal gehört?
„Das ist doch die gleiche Schwester, die in Eschersheim die alte Frau betreut hat? Beziehungsweise die Tote vom Spielplatz.“
Frau Roth warf Hanna einen ärgerlichen Blick zu. Sie rieb sich nervös die Nase. Dann erwiderte sie:
„Wir pflegen kranke Menschen und werden jeden Tag mit dem Tod konfrontiert. Wer das außer Acht lässt, hat etwas nicht verstanden. Unsere Arbeit kann uns jedenfalls nicht zum Vorwurf gemacht werden.“
Ihre Stimme hatte zum Schluss weinerlich geklungen. Keine Frage, sie war mit den Nerven am Ende. Hanna war ungewollt in ein Fettnäpfchen getappt. Die Frau fühlte sich in ihrer Berufsehre verletzt. Die Kommissarin schwieg und sah sich die Schwester genauer an. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und wirkte kraftlos. Vielleicht macht ihr der Anblick der Toten zu schaffen? Mordopfer sehen anders aus als Kranke. Da hilft auch keine noch so hohe Professionalität. Der Schädel der Toten war schwer deformiert. In der Tat ein Bild, das einem Schauer über den Rücken laufen lassen konnte. Vermutlich war sie als Kripobeamtin schon zu abgestumpft.
„Kommen Sie, wir gehen ins Haus zurück. Haben Sie die Krankenakte dabei?“
Sie nickte: „Ja, die Unterlagen liegen noch im Auto.“
Hanna ging voraus. Als sie in der Küche standen, zog sie einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich hin. Frau Roth blieb verunsichert stehen. Sie wirkte abwesend. Hanna räusperte sich:
„Frau Roth, würden Sie mir bitte die Patientenakte holen?“
Die Schwester verschwand wortlos Richtung Ausgang. Hanna sah sich in der Zwischenzeit in der Küche um. Wände und Fußboden waren weiß gefliest. Alles wirkte peinlich sauber. Kein gebrauchtes Geschirr stand herum. Irgendwie erinnert sie der Raum an ein Labor. Hier wurde anscheinend nicht gekocht. In diesem Haus arbeitete der gleiche Pflegedienst wie bei der Toten vom Spielplatz. Was war los mit dieser Firma? Kassierten die nur das Geld und kümmerten sich nicht richtig um ihre Patienten?
Frau Roth kam zurück und legte die Unterlagen auf den Küchentisch.
„Warum haben Sie den Notarztwagen und nicht den Hausarzt gerufen? Sie haben doch sicherlich erkannt, dass die Frau tot war?“, wollte Hanna wissen.
Die Schwester setzte sich auf einen der Stühle. Sie wich Hannas Blick aus und starrte auf ihre Hände. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren und wirkte zerfahren. Nach einer kleinen Pause begann sie, zu reden:
„Der furchtbare Anblick. Ich bin so erschrocken. Bei Unfällen benachrichtigen wir immer den Notarzt. Schon zur eigenen Absicherung. Ich habe automatisch reagiert. Im Normalfall sterben unsere Patienten an ihrer Krankheit. Dann benachrichtigen wir den Hausarzt. Der stellt den Totenschein aus und wir, oder die Familie, informieren den Bestatter. Es hat sich hier aber um eine ganz andere Situation gehandelt. Frau Sager saß oft im Garten und ihr ist nie etwas passiert.“
Hanna erwiderte nichts, zog die Unterlagen zu sich heran und öffnete die Mappe. Alle Pflegeberichte waren mit Datum und Handzeichen versehen. Für den heutigen Tag fehlten allerdings die Eintragungen. Es waren standardisierte Aufzeichnungen. Über das tatsächliche Befinden der Patientin sagten sie nur wenig aus. Die Krankenberichte wiederholten sich in bedrückender Eintönigkeit. Die Kommissarin legte den Ordner zur Seite und meinte:
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