Hanna hüstelte ein bisschen. Starker Tobak, was der Mann da von sich gab. Erst nachdem sie durchgeatmet hatte, konnte sie die nächste Frage an ihn richten:
„Was hat denn Ihr Hausarzt dazu gesagt?“
„Die Hausärzte haben doch auch keine Zeit. Unser Arzt hat mir die Entscheidung überlassen. Niemand kann meiner Frau helfen. Sie hat einen Gehirntumor. Nach fünfzig Jahren Ehe stehe ich ihr bei. Egal, wie lange es dauern wird. Sie würde es im umgekehrten Fall genauso für mich tun. Das ist altmodisch, aber das interessiert mich nicht. Mit meinem Sohn bin ich fertig. Ich habe mithilfe meines Anwalts alles geregelt. Er wird, was mich betrifft, nichts entscheiden.“
Hanna blickte in das verbitterte Gesicht des alten Mannes. Er war gut gekleidet, lebte in einer luxuriösen Umgebung und schien der unglücklichste Mensch auf der Welt zu sein.
„Wohnt Ihr Sohn noch hier im Haus?“
„Ja, das wird auch so bleiben. Er wird keine Familie haben, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er ist Maler und hat in Frankfurt studiert. Seine Bilder verkaufen sich kaum. Von was er lebt, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich will es auch gar nicht wissen. Er haust mit seinen obskuren Freunden im Souterrain des Hauses. Die Wohnung hat einen separaten Eingang. Wir begegnen uns kaum.
Torsten warf Hanna einen fragenden Blick zu. Sie schüttelte leicht den Kopf und wartete, ob Herr Ebner noch etwas erzählen würde. Doch der stierte vor sich hin und schwieg. Nach wenigen Minuten durchbrach sie die Stille:
„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie uns so offen Auskunft gegeben haben. Das erleichtert unsere Ermittlungen.“
„Glauben Sie denn, dass jemand bei der alten Frau nachgeholfen hat?“, der Mann sah sie dabei von der Seite an. Sein Blick hatte etwas Lauerndes.
„Das wissen wir nicht. Wir stellen solche Nachforschungen routinemäßig an. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.“
Die Kommissarin erhob sich und reichte Herrn Ebner die Hand:
„Alles Gute für Sie und Ihre Frau. Sie brauchen uns nicht zur Tür begleiten. Wir finden den Weg allein. Auf Wiedersehen.“
Der Mann neigte den Kopf und blieb sitzen. Torsten gab ihm die Hand zum Abschied und folgte Hanna zur Tür. Als sie im Flur standen, wollte er etwas fragen, aber sie legte ihm schnell den Finger auf den Mund. Torsten hielt verwundert inne. Erst als sie wieder auf der Straße standen, begann Hanna zu reden:
„Die Schwestern bekommen von den Familien ihrer Patienten sehr viel mit. Da ist es schwer, unparteiisch zu bleiben. Du weißt selbst, was wir manchmal zu hören bekommen. Die Nachbarn wissen bestimmt auch einiges, aber keiner wird ein Wort sagen. Erst hinterher haben alle gewusst, dass da etwas nicht in Ordnung war. Die Pflegekräfte arbeiten in der Regel allein, das bedeutet, es gibt keine Zeugen.“
Torsten hörte Hanna im Moment nicht zu, was sie da alles vor sich hinmurmelte. Missgelaunt lief er zum Auto.
„Was für ein Irrsinn. Das ganze Geschwätz von dieser Frau Eckermann muss protokolliert werden. Das wird dauern.“
Torsten hasst es, lange Berichte schreiben zu müssen. An einen baldigen Feierabend war nicht mehr zu denken.
Ein Schatten huschte in der Morgendämmerung durch den Garten der Villa. Vorbei an den hochgewachsenen Bäumen und der Terrasse. Büsche umrahmten das Anwesen. Sie sollten die Bewohner des Hauses vor neugierigen Blicken schützen. Der Schatten verkroch sich hinter einem Strauch. Er sondierte aus der Deckung heraus die Lage. Für so einen Auftrag brauchte man Geduld. Andernfalls würde die Sache schiefgehen.
Auf einmal ging das Licht im Erdgeschoss an. Jemand bewegte sich durch die Räume der Wohnung. Lampen wurden an- und wieder ausgeschaltet. Im Garten erschien eine schwache Herbstsonne, die von Nebelschwaden umhüllt war.
In diesem Augenblick wurde die Terrassentür aufgestoßen und eine Frau lenkte ihren Rollstuhl ins Freie. Sie trug einen Bademantel und war noch barfuß. Ihr Feuerzeug flammte auf. Sie rauchte langsam eine Zigarette und beobachtete die Vögel. Die Feuchtigkeit des Bodens stieg wie Dampf nach oben. Nachdem sie zu Ende geraucht hatte, drehte sie den Rollstuhl zur Seite und fuhr am Haus entlang. An der Ecke des Gebäudes hielt sie an und zog die Bremse des Rollstuhls fest. Sie hielt Ausschau nach dem Käuzchen, das sie manchmal am Abend hörte.
Auf diesen Moment hatte der Schatten gewartet. Er zog blitzschnell seine Maske zurecht und eilte lautlos auf die Terrasse. Es waren nur wenige Schritte. Dann konnte er von hinten nach der Bremse greifen. Die Frau sah für den Bruchteil einer Sekunde die schwarze Hand. Ihr blieb vor Schreck der Atem stehen. Bevor sie sich noch umdrehen konnte, gab der Unbekannte dem Rollstuhl einen Stoß. Sie fiel nach vorn, versuchte das Treppengeländer zu fassen, aber ihre Hände griffen ins Leere. Dann riss sie ein Schmerz in die Tiefe, der alles auslöschte.
Kein Schrei war zu hören. Nur ein dumpfer Aufprall, so als wäre ein Auto auf etwas aufgefahren, begleitet von einem metallischen Knirschen. Es hatte keine Minute gedauert. Danach war es wieder still. Nur die Vögel flatterten aufgeregt umher. Die kleine Eule, die in der Fichte saß, schloss für eine Sekunde die Augen.
Der Schatten verschwand so unauffällig, wie er aufgetaucht war.
Der Regen spritzte an die Fensterscheibe. Hanna Wolf sah zum Fenster hinaus. Einen goldenen Oktober würde es dieses Jahr nicht mehr geben. Ihr Telefon klingelte. Sie griff nach dem Handy: „K13, Wolf.“
Während sie dem Anrufer zuhörte, verdüsterte sich ihre Miene: „Häuslicher Unfall?“
Der Notarzt wiederholte seine Meldung:
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau sich selbst die Treppe hinuntergestürzt hat. Eine Schwester des Pflegedienstes hat sie gefunden. Die Schwestern haben einen Schlüssel zur Wohnung. Der Ehemann der Toten soll sich zurzeit auf einer Geschäftsreise in Berlin aufhalten.“
„Wann genau wurde die Frau gefunden?“
„Etwa vor einer halben Stunde.“
„Gut. Lassen Sie alles so, wie Sie es vorgefunden haben. Die Mitarbeiterin des Pflegedienstes soll auf uns warten, wir sind in fünfzehn Minuten vor Ort.“
Danach wählte die Kommissarin die Nummer des Archivs. Eine ältere Männerstimme meldete sich:
„Kerner, was gibt’s?“
„Hier ist Hanna. Sagst du bitte Torsten, dass er in die Tiefgarage kommen soll, wir sind zu einem häuslichen Unfall gerufen worden.“
„Ja, mach‘ ich“, es knackte in der Leitung. Er hatte aufgelegt.
Hanna alarmierte die Spurensicherung. Anschließend fuhr sie mit dem Aufzug zum Fuhrpark, setzte sich in den Wagen und notierte die Uhrzeit. Kurze Zeit später kam Torsten im Laufschritt angerannt. Er ließ sich außer Atem in den Sitz fallen:
„Wo müssen wir hin, was ist los?“
„Häuslicher Unfall mit tödlichem Ausgang. Die Rettung glaubt, dass jemand nachgeholfen hat.“
„Hören die mal wieder das Gras wachsen? Was ist denn momentan los? Haben wir es nur noch mit alten Leuten zu tun, die irgendeiner um die Ecke bringen will?“
„Keine Ahnung. Eine Frau ist mit dem Rollstuhl eine Außentreppe hinabgestürzt.“
Torsten verzog das Gesicht und sah Hanna von der Seite an:
„Wird kein schöner Anblick sein. Worauf warten wir noch?“
Sie fuhr los und versuchte sich in die Autoschlange einzureihen.
„Wo und wann ist das passiert?“
„Wir fahren Richtung Innenstadt zur Böhmerstraße. Nach Auskunft des Notarztes muss der Unfall gestern passiert sein. Die Frau war nach ersten Erkenntnissen allein zu Hause. Den genauen Todeszeitpunkt werden wir erst später von den Gerichtsmedizinern erfahren.“
Torsten strich sich über die Hose und zog sein Hemd gerade. Es war ziemlich zerknittert, aber noch sauber. Hanna musste insgeheim grinsen.
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