Auch konnte er schon sehr früh beobachten, wie seine Eltern oft leise miteinander sprachen, wenn er in dieser Weise reagierte. Er war sich dann sicher, dass sie über ihn sprachen und dass es etwas Schlimmes war, was sie da zu bereden hatten.
Besonders intensiv war ihm in Erinnerung, wie sein Opa starb, kurz nach seinem zwölften Geburtstag. Er hatte ihn sehr lieb gehabt und war daher unendlich traurig, ja geradezu verstört. Um ihn zu trösten, hatte man ihm erzählt, dass der Opa jetzt beim lieben Gott im Himmel wäre und dass es ihm dort gutginge und man deshalb nicht traurig sein müsse. Dann hatte er einige Tage nach der Beerdigung seinen Vater ganz plötzlich gefragt: „Man kommt in den Himmel, wenn man gestorben ist. Aber woher kommt man dann, wenn man geboren wird?“
Er bemerkte, dass sein Vater über diese Frage furchtbar erschrak und ihr auswich. Zum ersten Mal hatte er sich hier mit einer Frage allein gelassen gefühlt. Und am Abend des gleichen Tages bekam er dann auch noch zufällig einen Gesprächsfetzen mit, als sein Vater zur Mutter sagte: „Ich glaube, wir werden es ihm bald sagen müssen.“
Was werden sie mir bald sagen müssen, hatte er gedacht, aber sich nicht mehr getraut weiterzufragen.
So ging es weiter bis zu seinem sechzehnten Geburtstag. Da nahm ihn am Nachmittag nach dem familiären Kaffeetrinken sein Vater beiseite und sagte: „Konstantin, du bist jetzt sechzehn Jahre alt und es wird Zeit, dass du etwas Wichtiges über dich erfährst. Deine Mutter und ich, wir haben dich aufgezogen als unser Kind, aber Mama hat dich nicht geboren. Wir haben dich adoptiert, als du acht Wochen alt warst.“
Es hatte ihn getroffen wie ein Hammerschlag. Nach langem Schweigen hatte er gefragt: „Und wer sind meine richtigen Eltern?“
„Deine richtigen Eltern, das sind wir, Mama und ich. Du fragst nach deinen leiblichen Eltern. Und da gebe ich dir mein väterliches Ehrenwort: Wer das ist, das weiß ich selber nicht. Als wir dich damals adoptiert haben, hat man uns gesagt: Es sei für dich und deine leiblichen Eltern besser, wenn du das nie erfährst. Mama und ich haben lange überlegt, ob wir uns darauf einlassen sollten. Aber es ist nicht leicht hierzulande, ein Kind zu adoptieren. Wir hatten schon so viele Jahre gewartet. Und deshalb haben wir uns darauf eingelassen. Vielleicht hätten wir es nicht tun sollen. Aber jetzt ist es eben so.“
Durch diese Nachricht wurde Konstantin völlig aus der Bahn geworfen. Er sprach kaum noch ein Wort mit seinen Eltern. Vorher ein guter Schüler, brach er nun in allen Fächern ein. Zeitweise rutschte er in die Rauschgiftszene ab, fing sich aber nach einer Entziehungskur wieder. Doch das Verhältnis zu seinen Eltern blieb unwiderruflich zerstört.
Und nun saß er im Hörsaal II des Psychologischen Seminars und die Vorlesung über die biologischen Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit neigte sich ihrem Ende zu. Da fasste er einen Entschluss. Er musste endlich aufhören nur zu grübeln. Damit konnte er nicht weiterkommen. Er musste handeln. Auch wenn es dreiundzwanzig Jahre her war, musste es doch noch irgendwo Unterlagen geben, aus denen hervorging, wer seine richtigen Eltern waren.
Also entwarf er einen Plan. Er wusste, dass seine Adoption damals über das Jugendamt in Weinheim gelaufen war. Da wollte er zuerst hingehen. Wenn er dort nicht weiterkäme, könnte er einen Privatdetektiv beauftragen, das Geheimnis seiner Geburt zu lüften. Da hörte er das Klopfen seiner Kommilitonen. Die Vorlesung war zu Ende.
Jetzt kein Zögern mehr, dachte er. Weitere Lehrveranstaltungen an diesem Tag mussten eben ausfallen. Er warf sich seine Umhängetasche über die Schulter und verließ das altertümliche, lange als Schule genutzte Gebäude. Zwischen den großen, kahlen Bäumen des Innenhofs hindurch gelangte er auf die Brunnengasse, wo er nach wenigen Metern in die Hauptstraße einbog. Ohne einen Blick für die weihnachtlich dekorierten Schaufenster ging er weiter und stieg bald darauf am Bismarckplatz in die Linie 6 nach Weinheim ein.
Es überkam ihn plötzlich ein immenses Aufbruchsgefühl. Alle Hemmungen und Ängste, die ihn bisher verfolgt und behindert hatten, würden endlich verschwinden, wenn er erst einmal klar sehen konnte, wer er wirklich war und woher er kam. Dass er bei seinen Nachforschungen auf schlimme Dinge stoßen könnte, diesen Gedanken ließ er jetzt nicht zu.
In Weinheim angekommen, ging er mit schnellen Schritten vorbei am heruntergekommenen, schon lange geschlossenen alten Bahnhofsgebäude, über die Kopernikusstraße aufwärts zum neugotischen Schloss, wo die Stadtverwaltung ihren Hauptsitz hatte. Dort sagte man ihm, das Jugendamt sei schon lange zusammen mit anderen Dienststellen in einen neuen Gebäudekomplex in der Dürrestraße umgezogen. Über die Grabengasse und Institutsstraße erreichte er die Fußgängerzone in der Hauptstraße, die bald die Dürrestraße kreuzt. Dort stand rechter Hand das gesuchte Gebäude, und im ersten Stock fand er nach längerem Suchen die Dienststelle, die für Adoptionen zuständig war. Er klopfte und wurde nach kurzem Warten hereingebeten.
In einem kleinen und völlig schmucklosen Büro saß hinter einem klobigen Schreibtisch, auf dem sich Aktenberge türmten, eine Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein mochte. Ihre Bewegungen waren hektisch und ihr fleischiges Gesicht war unnatürlich rot angelaufen. Sie schien völlig überarbeitet zu sein. Ohne von ihrem Monitor aufzublicken, sprach sie Konstantin Lerner mit einer Stimme an, die verriet, wie ungelegen ihr diese Störung kam: „Herzog mein Name, was kann ich für Sie tun?“
Obwohl vor dem Schreibtisch zwei Stühle standen, bot sie ihm keinen Sitzplatz an. Konstantin Lerner setzte sich trotzdem und begann zu reden: „Ich bin Konstantin Lerner und wohne hier in Weinheim. Ich habe folgendes Anliegen. Ich wurde im Alter von acht Wochen adoptiert und meine Zieheltern versichern mir, dass sie selbst keine Ahnung haben, wer meine leiblichen Eltern sind. Es sei damals für die Adoption Bedingung gewesen, dass meine tatsächliche Herkunft für immer unbekannt bleibt. Das kann ich aber nicht akzeptieren. Ich will wissen, wer ich eigentlich bin.“
„Bitte noch einmal Ihren Namen und auch das Geburtsdatum“, antwortete Frau Herzog trocken.
„Konstantin Lerner, 20. November 1990.“
„Einen Moment bitte, ich muss prüfen, ob mir der Computer etwas anzeigt.“
Mit schnellen Fingern gab sie seine Daten ein. Nach kurzer Zeit schien sie etwas gefunden zu haben. Sie stutzte, sah noch zweimal genau hin und sagte dann etwas zögernd und befangen:
„Herr Lerner, ich muss Sie da leider enttäuschen, der Vorgang ist zu lange her. Wir haben darüber keine Unterlagen mehr.“
„Könnte es über den Vorgang noch irgendwo anders Unterlagen geben?“
„Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“
„Das bedeutet also, ich habe keine Möglichkeit mehr, etwas über meine Herkunft zu erfahren?“
„Ich fürchte, ja.“
„Das kann doch gar nicht sein! In diesem Land wird doch sonst jeder Mist Jahrzehnte lang aufgehoben. Und Sie sind sich sicher, dass Sie mir tatsächlich keine Auskunft geben können und nicht etwa nicht wollen oder dürfen?“
„Ich verbitte mir solche Unterstellungen, ich kann nichts für Sie tun. Damit ist dieses Gespräch beendet. Wie Sie sehen, habe ich viel zu tun. Guten Tag.“
Sie deutete auf die vielen Akten und wandte sich wieder ihrem Computer zu. Konstantin Lerner stand noch einige Augenblicke verdutzt im Raum, bevor er sich umwandte und die Tür recht lautstark hinter sich schloss.
Etwas benommen ging er den langen Gang zum Treppenhaus zurück. Er ließ das Zusammentreffen mit Frau Herzog noch einmal Revue passieren. Warum zögerte sie mit der Antwort, nachdem sie seinen Namen in den PC eingegeben hatte? Und warum reagierte sie so völlig überzogen auf seine letzte Frage? Er war sich sicher, dass sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Aber was sollte er jetzt tun? Wie konnte er sonst noch an Informationen kommen? Da erinnerte er sich, dass es irgendwo ein Stadtarchiv geben musste. Er rief über sein Handy die Stadtverwaltung an und man sagte ihm, es läge in der Schulstraße, in dem gleichen Bau wie die Pestalozzi Grundschule.
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