So betrat sie zum zweiten Mal an diesem Tag den Dom und wandte sich zum nördlichen Seitenschiff, wo die Beichtstühle standen. Da saßen schon viele, die auch beichten wollten, und sie setzte sich in eine Bank, etwas abseits von den anderen.
Punkt fünf Uhr läutete eine kleine Glocke, und als Erste betrat eine alte Frau den Beichtstuhl. Der Bischof schien sich Zeit zu nehmen für die Beichtenden, denn es dauerte lange, bis sie wieder herauskamen. Während so einer nach dem anderen in den Beichtstuhl trat, wurde es langsam still im Dom. Immer weniger Touristen sahen sich um und Angela Ricardi hatte das Gefühl, auch die Zeit käme zum Stillstand. Sie ließ ihre Gedanken in der Weite des Raumes schweifen und die Natur forderte nach den drei fast schlaflosen Nächten erneut ihren Tribut. Sie schlief ein.
Sie schreckte hoch, als ein älterer Mann sie an der Schulter berührte. „Sie sind jetzt an der Reihe“, sagte er leise. Es war deutlich dunkler geworden. Stunden mussten seit Beginn der Beichte vergangen sein. Als ob sie Angst hätte, doch noch zu spät zu kommen, rannte sie fast zum Beichtstuhl, schlug sich dabei das Schienbein so heftig an der Kante einer Kirchenbank an, dass sie fast gestürzt wäre. Dann trat sie schnell ein, ließ den roten Vorhang hinter sich zufallen und kniete nieder. Bischof Neidhardt bemerkte ihre Atemlosigkeit und ließ ihr etwas Zeit sich zu sammeln. „Gelobt sei Jesus Christus“, begann er schließlich und sie antwortete: „In Ewigkeit, Amen.“
„Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen 4“, sprach der Bischof langsam und leise.
„Du bist sehr erregt, meine Tochter. Ich sehe, du trägst eine schwere Last. Aber sag mir erst, wie ist dein Name?“
„Angela.“
„Das ist ein schöner Name. Angela, sprich! Was quält dich?“
Sie zögerte erst und sagte dann so leise, dass der Bischof sie kaum verstand: „Exzellenz, ich möchte in Demut und Reue meine Sünden bekennen 5. Aber ich weiß nicht, ob es überhaupt recht ist, dass ich hier bin. Ich habe schon unserem Gemeindepfarrer gebeichtet. Aber der war sehr streng mit mir. Ich habe mich drei Tage und drei Nächte geprüft und erkannt, dass ich nicht erfüllen kann, was er von mir gefordert hat. Jetzt weiß ich nicht mehr ein noch aus. Zweimal war ich in der Zeit ganz kurz davor, meinem Leben ein Ende zu setzen.“
„So danke dem Herrn, Angela, dass er dir einen Engel gesandt hat, dich zu bewahren. Ich sehe an deinen traurigen Augen, wie du dich quälst. Du handelst nicht leichtfertig. Es ist keine Sünde, in einer schweren Lage keinen Ausweg zu sehen. Erzähle! Gemeinsam werden wir dann einen Weg aus deiner Not finden.“
Seine ruhige, gütige Stimme hatte ihr die Angst genommen. Sie begann zu erzählen, zum ersten Mal ausführlich, von jener verhängnisvollen Nacht in Davos, von den Demütigungen, vom Verlust an Vertrauen.
„Was das Schlimmste ist“, fuhr sie dann fort. „Ich habe mit einem Mal den Glauben daran verloren, dass die Welt an sich gut ist, dass Böses überwunden werden kann. Und es kam noch schlimmer. Als mir mein Arzt sagte, in mir reift neues Leben heran, habe ich auch mein Vertrauen zu Gott verloren. Warum lässt Gott es zu, dass neues Leben aus einem Verbrechen entsteht? Aber darf ich diese Frage stellen? Oder ist das Hochmut, Exzellenz?“
„Natürlich darfst du so fragen. Es gibt keine Frage, die man nicht stellen darf. Ich bin fast siebzig Jahre alt, und im Beichtstuhl habe ich immer wieder diese Frage nach dem Warum gehört. Und als junger Mann habe auch ich sie in äußerster Verzweiflung selber gestellt. Ich war im Februar 1945 dabei, als Dresden im Feuersturm versank. Und unauslöschlich hat sich in meine Seele eingebrannt, wie dabei der Mensch, der mir damals der Liebste war, als lebende Fackel von mir weglief.“
„Aber wie können wir damit leben?“
„Angela, meine Tochter, ohne die Erlebnisse von 1945 säße ich nicht hier. Damals habe ich gelernt: Gott hat uns Menschen so geschaffen, dass wir viele Fragen zwar stellen, aber nicht beantworten können. Das gilt vor allem für die Frage nach dem Warum. Erst wenn wir aufhören, diese Frage zu stellen, kann
unsere Fantasie uns Wege zeigen, die uns die Frage vergessen lassen.“
„Exzellenz, ich würde dem ja gern folgen. Aber meine Fantasie reicht nicht, mir für mich einen Ausweg vorzustellen.“
„Wir wissen doch beide: Nicht du hast gesündigt, sondern andere Menschen haben sich an dir versündigt. Statt dir eine Buße aufzuerlegen, lade ich dich ein, morgen früh noch einmal zu mir zu kommen. Wir werden gemeinsam einen Weg suchen und finden, der dich trotz allem glücklich leben lässt.“
Er erteilte ihr Absolution und benommen verließ Angela Ricardi den Beichtstuhl. Ganz langsam ging sie in das Mittelschiff und setzte sich in die letzte Bank. Sie wusste, dieser Tag würde einer der wichtigsten in ihrem Leben sein. Sie blieb sitzen, bis ein dienstbarer Geist sie bat, den Dom zu verlassen. Sie trat durch das Tor der Westfassade und blickte in das Rot der untergehenden Sonne.
2 – Aleppo, 29. September 2012
Plötzlich sahen sie die Feuerwalze durch den Gang direkt auf sich zukommen. Überall war Rauch. Menschen rannten in Todesangst an ihnen vorbei. Prasselnd verschlang das Feuer Stand um Stand.
„Wir müssen weg, sofort!“, schrie Radi al-Sibai. Aber Faruk, der Vater, zögerte.
„Nein, wir müssen unser Hab und Gut retten!“
Der Sohn ergriff ihn am Arm und versuchte, ihn fortzuzerren. Aber der Alte war trotz seiner siebzig Jahre stark genug, sich loszureißen. Den Sohn packte Todesangst.
„Komm, sonst ist es zu spät!“, beschwor er den Vater.
„Flieh du, ich muss das Erbe meiner Väter und Vatersväter zu bewahren suchen.“
„Hier ist nichts mehr zu bewahren. Hier wütet der Tod.
Komm!“
„Flieh! Einer muss für die Familie sorgen. Wenn ich fliehe, verbrennt hier meine Seele. Ich muss bleiben.“
„Vater, bitte, es hat keinen Sinn, komm!“
„Flieh, ich befehle es dir als Vater!“
Er sah in das zu allem entschlossene Gesicht des Vaters und wusste, dass er ihn nicht mehr umstimmen konnte. Die Feuerwalze kam immer näher.
„Vater, ich schwöre bei Allah und dem Propheten Mohammed, ich werde dich rächen.“
Er warf einen letzten Blick auf den Vater und den Stand, der auch einmal seine Existenz hätte sein sollen. Dann stürzte er sich in den Strom der panisch Fliehenden. Es war die Hölle. Der Gang war zu schmal, um alle Fliehenden aufnehmen zu können. Manche wurden zur Seite in die Stände hineingedrückt. Andere hatten versucht, mindestens einen Teil ihrer Habseligkeiten zu retten, und merkten erst jetzt, wie hinderlich das war. Sie ließen fallen, was sie trugen, und die Nachfolgenden stolperten über Teppiche, Kleidungsstücke, zersplittertes Porzellan, kamen zu Fall, wurden überrannt und hatten keine Chance mehr, wieder auf die Beine zu kommen. Kinder schrien verzweifelt nach ihren Müttern, die sie im Chaos verloren hatten. Aber niemand hörte sie. Viele wurden umgerannt und zertreten. Da sah er vor sich einen alten Mann, der versuchte, in einem kleinen Leiterwagen einige Flaschen erlesener Öle, die alles waren, was er besaß, vor den Flammen zu retten. Dadurch staute sich der Strom der Fliehenden. Wütend stieß ein junger Mann den Wagen mit einem heftigen Fußtritt zur Seite. Er fiel um und die Flaschen zerschlugen. Radi al-Sibai konnte noch das Entsetzen im Gesicht des Greises sehen. Dann wurde er im Strom weitergerissen, strauchelte mehrmals, konnte sich aber auf den Beinen halten. Endlich war das Antiochia-Tor erreicht und er war dem Inferno entkommen.
Der Strom der Fliehenden ergoss sich durch das Tor ins Freie. Plötzlich fielen Schüsse. Niemand wusste, woher sie kamen. Menschen brachen blutüberströmt zusammen. In äußerster Panik stob die Menge auseinander und die Fliehenden versuchten, in kleinen Gassen Schutz zu finden. Auch Radi alSibai rannte um sein Leben. Da spürte er einen glühenden, stechenden Schmerz in der rechten Schulter, sah Blut aus seinem Körper quellen, taumelte, versuchte, sich auf den Beinen zu halten, wurde von anderen gestoßen, und dann wurde es Nacht um ihn.
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