Aus dem „Sonnengesang“ von Franz von Assisi
Angela Ricardi war völlig verzweifelt. Ihren Blick auf den Boden geheftet, nicht starr, sondern unstet flackernd, verließ sie das beschauliche Waldhilsbach* langsam und stolpernd, die Schultern hochgezogen und den Rücken gebeugt, das Gesicht von ihrem langen schwarzen, leicht gelockten Haar fast vollständig verdeckt. Immer wieder sah sie sich scheu nach den Seiten um, als ob sie Angst hätte, verfolgt zu werden.
Sie hatte sich Pater Ignatius in der Beichte anvertraut, der sie schon vor genau zwanzig Jahren zur Erstkommunion geführt hatte. Aber er half ihr nicht, im Gegenteil. Er ließ nicht gelten, dass sie unschuldig an ihrem Unglück war, und fällte sein Urteil gnadenlos und hart: Neues Leben sei immer ein Gottesgeschenk. Die sündigen Menschen hätten nicht zu fragen, ob sie mit den Bedingungen seiner Entstehung einverstanden sind. Das in ihr reifende Kind mochte für sie eine schwere Prüfung sein, aber die müsse sie bestehen. Gott habe selbst seinen Sohn geprüft, da dürften sich die sündigen Menschen seinen Prüfungen nicht widersetzen. Daran auch nur zu denken sei schon schwere Sünde. Als Buße dafür gab er ihr auf, fünfzig Ave Maria und zehn Vaterunser zu beten.
Dabei war früher alles so schön gewesen. Umsorgt und behütet war sie aufgewachsen als einziges, spätes Kind ihrer Eltern. Die waren überglücklich, dass nach zwölf kinderlosen Ehejahren ihr sehnlichster Wunsch doch noch in Erfüllung gegangen war. „Unser Engel“, sagten sie immer, wenn sie von ihr sprachen. Und das meinten sie auch. Denn sie waren tief gläubig. Ein Zweifel an dem, was die Kirche lehrte, wäre ihnen nie gekommen. In dieser Atmosphäre der unbedingten Gültigkeit der Lehren der Kirche war sie groß geworden. Unvergessen
blieb der Tag der Erstkommunion. Das weiße Kleid, der Weihrauch, die vielen Menschen, die auf sie schauten. Die schönen Lieder, die wunderbare Orgel. So ähnlich muss es im Himmel sein, dachte sie damals und fühlte sich wahrlich als Engel.
Sie hatte nie empfunden, wovon erst viele ihrer Mitschüler und später Studienkollegen sprachen: die Enge und Muffigkeit katholischer Erziehung. Die Eltern hatten ihren Glauben so natürlich gelebt, dass sie sich in diesem Leben rundum glücklich fühlte. Sie engagierte sich für Projekte von Adveniat in der Dritten Welt und ließ seit ihrem zwölften Lebensjahr keinen Katholikentag aus. Nach ihrem Abitur war sie mit einer Jugendgruppe nach Rom gereist und dort von dem damals neuen Papst Johannes Paul II. empfangen worden. Sie durften sogar mit ihm sprechen. Vom Charisma dieses Mannes verzaubert, verehrte sie ihn seitdem mehr als den eigenen Vater.
Und dann die große Liebe zu Benni, einer Liebe, mit der der Traum ihrer Kindheit weiterzugehen schien. Es war ausgemacht, dass sie heiraten würden, wenn sie erst im Beruf etabliert wären, dass sie Kinder bekommen und glücklich würden. Nur schmerzte sie es immer wieder, wenn Benni nicht warten wollte, bis der Segen Gottes ihre Verbindung besiegelte. Aber irgendwann schien er es eingesehen zu haben und fing nicht mehr davon an.
In der Schule war sie stets die Klassenbeste, ohne sich wirklich anstrengen zu müssen. Dann hatte sie an der Heidelberger Universität Jura studiert und vor zwei Monaten ihr Doktorexamen summa cum laude abgelegt. Sie war jetzt 28 Jahre alt und ihre Karriereaussichten waren blendend. Was wollte sie mehr?
Doch zwei Wochen nach dem Examen brach in Davos die Katastrophe über sie herein, eine totale Demütigung und ein fürchterlicher Vertrauensbruch. Aber das wäre noch verkraftbar gewesen, hätte nicht die Nachricht ihres Arztes vor fünf Tagen den zweiten Schock gebracht. Davos würde Folgen haben, die sie ihr ganzes Leben nicht loswerden könnte, es sei denn …, es sei denn, sie entschied sich für das, was ihre Religion ihr verbot.
Und jetzt der dritte Schlag: das Verdikt von Pater Ignatius. Ziellos ging sie immer tiefer in den Wald hinein und dachte nicht daran umzukehren, als es dunkel wurde. Sie prüfte immer wieder, ob sie die Forderungen von Pater Ignatius erfüllen könne. Und immer wieder hieß die Antwort: nein. Wie sollte sie ein Kind in Liebe aufziehen, das sie immer an die fürchterlichste Demütigung erinnern würde? Wie sollte dieses Kind Zuversicht zum eigenen Leben finden in dem Wissen, dass es seine Existenz einem Verbrechen verdankte? Und sie glaubte auch nicht, ihm seine wahre Entstehung verschweigen zu können. Diese Lüge würde das Kind für immer unerträglich belasten, selbst wenn sie nie offenbar würde.
Drei Tage und drei Nächte irrte sie schlaflos durch Heidelberg und die angrenzenden Wälder. Zweimal stieg sie auf den Turm der Heiliggeistkirche*, um ein Ende zu machen. Aber auch dazu war sie zu schwach. In der dritten schlaflosen Nacht kam dann überraschend die Wende: Sie hatte oben auf dem Heiligenberg in der Krypta der Michaelsbasilika* Schutz vor einem nächtlichen Gewitter gesucht. Und plötzlich stand in völliger Klarheit ein Erinnerungsbild vor ihr: Rafael Neidhardt, der Bischof von Speyer, ein Hüne von Gestalt, mit schon ergrautem, wallendem Haupthaar und gewaltigem Vollbart, steht vor einem riesigen Auditorium. Es war am letzten Katholikentag, und mit seinem Vortrag über „die Barmherzigkeit Gottes“ zog er seine Hörer in Bann. Mit dem warmen Klang seiner Stimme und dem liebevollen Ausdruck seiner leuchtenden Augen schien er Gottes Barmherzigkeit Gestalt zu geben. Er sprach davon, dass es keine Sünden gäbe, die Gott nicht auch vergeben könne, dass es keine auch noch so verworrene Situation gäbe, in der kein Ausweg zu finden sei. „Wenn du dich wahrhaft ins Gebet versenkst, wird sich dir eine Lösung offenbaren, und je schwieriger das Problem ist, um so einfacher wird sie sein.“
Im gleichen Moment wusste sie: Dieser Mann wird mich verstehen. Er wird mir helfen.
Sie erhob sich von den kalten Steinstufen und merkte nicht mehr, wie in der regennassen Kleidung die Kälte ihren Körper
herauf kroch. Voll neuer Energie trat sie hinaus in den Regen und kümmerte sich nicht um Blitz und Donner. Sie eilte hinunter zur Heidelberger Altstadt, über die Alte Brücke, hinauf zum Schloss und weiter durch den Wald, wo sie sich so gut auskannte, dass sie trotz der stockdunklen Regennacht mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg über den Königstuhl zurück nach Waldhilsbach fand.
Kurz nach halb sieben erreichte sie das Elternhaus. Mutter und Vater, die schon die Polizei zu Hilfe gerufen hatten, um ihre verloren geglaubte Tochter zu finden, kamen ihr gleichzeitig erleichtert und erschrocken entgegen und überhäuften sie mit Fragen. Sie wehrte sie wortlos ab, suchte die Kleidung zusammen, die sie sonntags beim Kirchenbesuch zu tragen pflegte, ging ins Bad, duschte lang, kleidete sich an und verließ das Haus so wortlos, wie sie gekommen war, die fassungslosen Eltern mit ihren Fragen ratlos zurücklassend.
Sie bestieg ihren weißen VW-Golf und bemerkte, dass es allmählich aufhörte zu regnen, während sie durch Heidelberg über die Speyerer Straße nach Schwetzingen fuhr. Dort sah sie die ersten Sonnenstrahlen durch die vorher so dichte Wolkendecke brechen, wie sie glänzendes Licht über die Kuppel und Minarette der Moschee im Schlosspark warfen, die einst Kurfürst Carl Theodor zum ästhetischen Vergnügen für sich und seine Gäste hatte bauen lassen.
Als sie an den Rhein kam und sich der Blick auf den Kaiserdom* öffnete, hatten sich die Wolken fast vollständig verzogen. Der gewaltige Bau mit seinen vier Türmen und den zwei Kuppeln lag vor ihr im strahlenden Licht der Morgensonne, ein Anblick, der ihr von vielen Besuchen dieses Gotteshauses vertraut war und der ihr immer noch tief aufgewühltes Inneres ein wenig zur Ruhe brachte.
Sie überquerte den Rhein und stellte ihr Auto auf dem großen Besucherparkplatz südlich des Doms ab. Langsam stieg sie aus und merkte jetzt erst, wie müde und hungrig sie eigentlich war, hatte sie doch in den letzten drei Tagen wenig gegessen und so gut wie nicht geschlafen. Aber erst musste sie erkunden,
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