Es waren Stunden vergangen, als er langsam wieder zu sich kam und die Augen öffnete. Er fand sich in einem langen Gang auf einer dünnen Matratze am Boden liegend unter einer schmutzigen Wolldecke und spürte in seiner rechten Schulter einen bohrenden Schmerz. Er versuchte, den rechten Arm zu bewegen, ließ aber sofort davon ab, weil der Schmerz unerträglich war. Er sah sich um. Wo war er? Was war geschehen?
Allmählich kam die Erinnerung zurück, an das Feuer und an den Vater, der nicht fliehen wollte und der jetzt tot war. Er begriff, er war in einem Krankenhaus. In zwei langen Reihen lagen auf dem Gang viele von denen, die beim Inferno im Basar und dem nachfolgenden Beschuss durch Scharfschützen des Regimes verletzt worden waren, aber immerhin noch lebten. Reguläre Krankenhausbetten gab es schon lange keine mehr. Oft liefen Männer und Frauen hektisch durch den Gang. Sie taten hier wohl als Krankenpfleger Dienst. Aber sie kümmerten sich nicht um die Bitten der Patienten, denn es gab viel mehr Arbeit, als sie bewältigen konnten. Immer wieder wurden weitere Verletzte auf Bahren durch den Gang getragen, stöhnend, schreiend, von denen wohl viele dieses Haus nicht mehr lebend verlassen würden.
Es fröstelte ihn und er hatte furchtbaren Durst. Aber er musste froh sein, zu denen zu gehören, die schon wenigstens notdürftig versorgt waren. Manche schrien noch immer vergeblich vor Schmerzen um Hilfe. Und hin und wieder wurden welche aus den Reihen herausgeholt und weggetragen, wenn ein Pfleger bemerkt hatte, dass sie nicht mehr am Leben waren. Da war dieser fürchterliche Gestank von Schweiß, von Blut, Erbrochenem und Urin. Der nahm ihm die Luft zum Atmen. So dämmerte er erneut in einen leichten Schlaf hinüber, der aber
keine Erholung brachte, weil sich ihm sofort grauenhafte Traumbilder aufdrängten.
Als er wieder erwachte, sah er, dass neben ihm ein Mann lag, den er bisher noch nicht wahrgenommen hatte. Er musste ungefähr in seinem Alter sein, Mitte dreißig.
„Bruder, wer bist du?“, begann er ein Gespräch.
„Mohamed Domani.“
„Ich bin Radi al-Sibai. Was ist dir geschehen?“
„Meine Beine. Diese Assadschweine! Die Kugel eines Scharfschützen hat beide zerschlagen.“
„Warst du auch im Basar?“
„Ich habe dort Gewürze verkauft“, sagte Mohamed Domani tonlos. Das Sprechen schien ihn anzustrengen. „Meine beiden Söhne haben mir geholfen. Dann kam das Feuer. Im Chaos der Flucht habe ich sie verloren.“ Er schwieg. Nach einer Weile setzte er fort: „Wahrscheinlich sind sie tot.“
„Mein Vater ist verbrannt.“
Für lange Minuten sagten sie kein Wort. Dann begann Radi al-Sibai wieder: „Wir müssen unsere Toten rächen.“
„Natürlich!“, setzte Mohamed Domani mit Emphase fort.
„Wenn ich wieder gesund werde, gehe ich zu unseren kämpfenden Brüdern.“
Aber Radi al-Sibai konnte seinen Enthusiasmus nicht teilen:
„Das wird nichts nützen. Die Assadleute haben bessere Waffen.“
„Wenn schon!“, redete sich Mohamed Domani jetzt in Begeisterung. „Wir werden sie dennoch vernichten. Und wenn wir fallen, sterben wir als Märtyrer und gelangen direkt ins Paradies. Hast du etwa Angst zu kämpfen?“
„Nein, aber ich will nicht nur kämpfen, ich will auch siegen.“
„Alle wollen siegen.“
„Aber um zu siegen, brauchen wir die richtigen Waffen.“
„Und woher bekommen wir die?“
„Hör zu! Ich habe vier Jahre in Deutschland studiert, da …“
„Bleib mir mit den westlichen Hurensöhnen vom Hals, die haben uns eh verraten!“, unterbrach ihn Mohamed Domani in tiefer Verachtung.
„Ich hasse sie auch, weil sie den Propheten beleidigen. Aber wir können die benutzen und von denen bekommen, was wir brauchen, um zu siegen.“
„Und das wäre?“
„Ich habe in Deutschland Informatik studiert, …“
„Was ist das?“
„Die Technik, Computer zu bauen, Maschinen, die alles machen, was du willst.“
„Willst du Assad mit Computern besiegen?“ lachte Mohamed Domani den anderen aus.
„Ja, genau.“
„Das ist doch lächerlich!“
„Nein, lass es dir erklären: In einer organisierten Armee wie der von Assad läuft vieles über Computer, vor allem die gesamte Kommunikation: Befehle, Auswahl der Angriffsziele, Erfassung der Standorte des Feindes und so weiter. Alle ihre Computer sind miteinander in einem Netz verbunden. Wenn es uns gelingt, mit unseren Computern in dieses Netz einzudringen, können wir sie völlig verwirren. Wenn in dem Moment unsere Brüder an den Waffen massiv losschlagen, können wir Assad besiegen.“
Mohamed Domani schwieg eine Weile, dann meinte er eher skeptisch: „Ich verstehe das zwar nicht, aber es klingt gut. Du kannst solche Computer bauen?“
„Nein, dazu ist ein Mensch alleine nicht in der Lage. Aber ich habe Kontakte nach Deutschland zu einer Firma, die uns sowas bauen kann.“
„Dann sollen die das machen.“
„So einfach ist das nicht. Wir brauchen dazu Geld, viel Geld.“
„Und woher soll das kommen?“
„Vielleicht von unseren Brüdern in Saudi-Arabien? Auch die hassen Assad. Hör zu: Um ein solches Projekt zu verwirklichen, brauchen wir eine Gruppe von Kämpfern, die das organisieren und schweigen können. Willst du mir helfen?“
„Wenn wir Assad dadurch besiegen können, will ich es.“
Konstantin Lerner saß in der allerletzten Reihe des Hörsaals II im Psychologischen Seminar der Uni Heidelberg und lauschte der Vorlesung von Professor Dr. Detlev Hager zu den biologischen Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit. Es war nicht leicht, seinen Ausführungen zu folgen, denn der Herr Professor vermittelte nicht den Eindruck, dass ihn sein Thema und auch die Studierenden sonderlich interessierten. Er las eher monoton, blieb sehr im Abstrakten und gab sich keine Mühe, die Darstellungen durch Beispiele aus der Praxis lebendig werden zu lassen.
In der ersten halben Stunde versuchte Konstantin noch, Professor Hagers Vortrag in Stichpunkten mitzuschreiben. Dann aber wurden die Aufzeichnungen immer lückenhafter, bis seine Gedanken völlig abschweiften und er vom Inhalt der Vorlesung gar nichts mehr mitbekam.
Er war wieder bei der Frage, die ihn schon seit geraumer Zeit mehr und mehr beschäftigte: Wer bin ich eigentlich?
Vor einigen Tagen war ihm ganz plötzlich klargeworden, dass er sein Studienfach eigentlich nur gewählt hatte, um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Aber in seinem Fall war klar, dass das nicht möglich war.
Wenn er sich an seine Kindheit erinnerte, so kamen widersprüchliche Gefühle in ihm hoch. Er war in Weinheim* aufgewachsen, einer kleinen Stadt, 18 km nördlich von Heidelberg an der Bergstraße* gelegen, die als besondere Sehenswürdigkeiten gleich ein Schloss und zwei Burgen zu bieten hat. Sein Vater war ein Augenarzt mit gutgehender Praxis, also wohlhabend. Sie wohnten am Berghang in einer hundert Jahre alten Villa mit einem großen Garten. Seine Eltern, vor allem die Mutter, waren immer da, wenn er sie brauchte. Und schon nach seinem ersten Jahr im Kindergarten durfte er oft seine Spielkameraden einla-den, hatten sie doch diesen wunderbaren großen, teils verwilderten Garten, der zu Abenteuerspielen aller Art einlud.
Aber, so erinnerte er sich, schon seit sehr früher Zeit hatte er das Gefühl gehabt, irgendetwas stimme nicht mit ihm, sei falsch an all dem Schönen, was er hatte. Oft spürte er scheinbar grundlose Angst. Wenn er nur kurz allein war, glaubte er schnell, er würde jetzt für immer allein bleiben müssen. Wenn er über eine Brücke ging, stellte er sich vor, sie würde gleich unter ihm einstürzen, und rannte dann so schnell wie möglich hinüber. Wenn er selbst oder jemand, der ihm nahe stand, krank wurde, fürchtete er, er würde niemals wieder gesund werden, sondern an der Krankheit sterben. Wenn dann seine Eltern versuchten, ihn zu beruhigen, und ihm erklärten, wie unbegründet seine Ängste doch wären, so half das nichts. Im Gegenteil. Er wurde tieftraurig, und manchmal wurde er auch einfach nur wütend und zerschlug Spielsachen, hin und wieder sogar Mutters edles Geschirr.
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