1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Sie ließ mich nach meiner unerwarteten Antwort einfach stehen und zog gleich zwei falsche Schlüsse daraus: Sie hielt mich erstens für frech und zweitens für unmusikalisch. Darum stellte sie an meinen Vater folgende Forderung: Sie wäre nur bereit, mich zu unterrichten, wenn ich mich „ausgekaspert“ hätte und die Grundlagen bereits mitbringen würde. Damit wollte sie wohl sichergehen, dass ich nie auf ihrer Klavierbank sitzen würde. Ausgekaspert habe ich mich bis heute nicht und dass ich in der Lage wäre die Grundlagen des Klavierspiels zu erlernen, hielt sie vermutlich für ausgeschlossen. Und sollte mir das zuvor bei einem anderen Lehrer tatsächlich gelungen sein, gab es keinen Grund, nicht bei ihm zu bleiben: Sehr schlau eingefädelt! Aber mein Vater nahm sie beim Wort und trickste sie aus!
Meine Eltern sind kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geboren. In ihrer Kindheit stellte sich die Frage nach dem Erlernen eines Instrumentes also nicht. Andererseits ist mein Vater genau wie ich niemand, der beim ersten Gegenwind das Ziel aus den Augen verliert. Er fand, dass das Tastenspiel für einen gebildeten Menschen am Anfang auch ohne Lehrer kein Problem sein konnte. Also besorgte er uns eine Klavierschule, entnahm ihr, welcher Fleck auf dem Notenpapier welcher Taste auf dem Klavier zugeordnet ist und gab sein frisch erworbenes Wissen postwendend an mich weiter. Mein allererster Klavierlehrer muss seine Sache gut gemacht haben, denn nach ein paar Monaten durfte ich bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zu Frau Kieckbusch nach Stockelsdorf fahren! In den ersten Jahren hatten meine Schwester und ich unsere Klavierstunden direkt nacheinander, damit wir den langen Weg aus Sicherheitsgründen zusammen zurücklegen konnten. Während der eine im Unterricht war, vergnügte sich der andere im Keller mit den zurückgelassenen Spielsachen der Kieckbusch’schen Kinder, die längst ausgezogen waren. Und dann gab es auch noch den dicken, schwarzen Kater Mulli.
Ich mochte die klassische Musik. Aber ich hatte eine innere Blockade, die mir den tiefen Zugang zu ihr verwehrte. Mit Noten konnte ich nie richtig was anfangen. Mit 21 war ich deswegen sogar einmal in der Seelsorge! Ich hoffte, Gott konnte mein Verhältnis zu den zwei mal fünf Linien verbessern. Das tat er aber nicht, und jetzt bin ich froh, vor kurzem meiner Freundin Ela einen größeren Teil meiner Notensammlung geschenkt zu haben. Ich habe den Rest nur noch in den Händen, wenn ich umziehe. Sie in den Altpapiercontainer zu stopfen wäre pietätlos. Außerdem hängen auch Erinnerungen dran.
Wenn Frau Kieckbusch mir im Unterricht etwas vorspielte, war ich sehr beeindruckt von ihrer Virtuosität und den Kompositionen der großen Meister. Sie schien alles spielen zu können. Gleichzeitig war ich traurig, weil ich wusste, dass ich nie so spielen würde. Noch ahnte ich nicht, dass auf mich ein anderer musikalischer Weg wartete. Trotzdem war jede Klavierstunde wichtig! Denn alle großen Pop-Pianisten, also Elton John, Billy Joel und ich haben als klassische Pianisten angefangen.
Mein erster Auftritt! Weihnachtsfeier der Gotthard-Kühl-Grundschule, 1975.
1978: „Mein Bruder klappt die Noten zu und spielt einfach irgendetwas!“
Die Töne, die ich dem Klavier entlockte, gefielen mir, aber die Sache machte nur ohne Noten richtig Spaß. So fing ich an, mit den gelernten „Versatzstücken“ aus der Klassik, zum Beispiel der Begleitung durch den sogenannten „Alberti-Bass“, eigene Stücke zu komponieren. Für mich war das die natürlichste Sache der Welt. Aber meine Schwester kommentierte es erstaunt und ehrfürchtig mit den Worten: „ Mein Bruder klappt die Noten zu und spielt einfach irgendetwas .“ Auch meine Eltern fanden das besonders, wollten es gerne fördern, wussten aber nicht wie. Eines Tages hatte einer von ihnen eine Musikstudentin als Patientin, die sofort zu dem Thema interviewt wurde. Sie empfahl, mich in die Hände ihres Kommilitonen Michael Töpfer zu geben. Michael studierte im Hauptfach Komposition und gab vielen seiner Kommilitonen Nachhilfe, damit sie die gefürchtete Klausur in Harmonielehre bestanden. Neben Klavierstunden, Akkordeon-Unterricht und Geräteturnen war mit den Stunden bei ihm dann mein vierter Nachmittag in der Woche belegt. Wir trafen uns in seiner kleinen Butze im Buxtehude-Heim am Jerusalemsberg. Und dann ging es meist an den Flügel im obersten Stock der Villa gegenüber. Er hatte für den Raum einen Schlüssel von einem seiner Professoren bekommen.
Für mich wehte hier ein Hauch von musikalischer Weite und Freiheit. Und irgendwo in der Ferne schwebte diffus die verlockende Aussicht, beruflich später etwas mit Musik zu machen. Dahin führte in Michaels Augen natürlich ein Musikstudium. Und so begann er mir sehr ernsthaft die klassische Harmonielehre und die strengen Stimmführungsregeln im „Generalbass-Spiel“ beizubringen. Mit dreizehn Jahren bekam ich so die fundierteste Grundlage, die man als Popmusiker haben kann. Nach dem ernsten Stoff, bei dem ich unter strenger Aufsicht mittelalterliche Kadenzen zu entwickeln hatte, spielte Michael für mich auch schon mal einen Boogie-Woogie. Er hatte es einfach drauf! Und wenn ich ihm dann meine zu Hause neu entdeckten Pop-Kadenzen vorspielte, bezeichnete er die immer als „ganz apart“ .
Ich musste bei ihm Kompositionen wie mein „Lampenfieber“ in Noten aufschreiben. Mit der Begründung, dass nur so andere in der Lage wären, sie nachzuspielen. Was bis heute bestimmt kein Mensch je getan hat. Irgendwie war in der klassischen Welt alles erst dann richtig Musik, wenn es auf zwei mal fünf Linien graphisch festgehalten wurde. Michaels eigene kleine Kompositionen wie „Gedanken in der Nacht“ waren neu-romantisch und gefielen mir gut. Er hatte ihnen einen interessanten kleinen Schuss Atonalität zugefügt. Für Laien: Atonalität bedeutet (einfach erklärt) „schräge“ Töne! Für Experten: Ein paar weniger als bei Bela Bartok. Für Laien: Bela Bartok war ein ungarischer Komponist, der als modern galt, weil er viele schräge Töne einsetzte. Da ich gerade erst angefangen hatte „normale“ Akkorde zu lernen, waren Michaels Kompositionen für mich noch zu geheimnisvoll, um ihre Harmonik zu verstehen.
Jeder neu gelernte Akkord war eine Entdeckung! Mehr noch, er war eine Offenbarung! Vor mir lag eine unendliche musikalische Weite. Ich weiß noch, wie ich unter Michaels Anleitung zum ersten Mal A-Dur spielte. A-Moll kannte ich bereits. Er ermutigte mich, den Mittelfinger vom C aufs Cis zu verschieben. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für mich auf dem Weg zum Musiker. Einmal fehlten mir bei einer kleinen Komposition noch die letzten Takte und Michael komponierte für mich aus dem Stegreif ein Ende. Es fühlte sich toll an, mit ihm zusammenzuarbeiten und so etwas „unter Kollegen“ zu regeln. Sein Ende des Stücks klang interessanter als der ganze Anfang. Fairerweise wollte ich ihn als Mitkomponist aufführen, was er lachend ausschlug.
Körperlich entwickelten wir uns auseinander. Ich schoss hoch auf und war sehr fit. Zu allen nachmittäglichen Aktivitäten, die quer durch Lübeck verstreut waren, raste ich immer wie angestochen auf dem Fahrrad.
Natürlich hatten wir auch Schulsport. Außerdem hatte mein Vater unserer Familie ein allabendliches Jogging verordnet. Michael fehlte das alles. Er war eher der gemütliche Typ, der die Sitzfläche einer Klavierbank gut ausfüllte. An seinem Äußeren fiel ansonsten auf, dass er nicht jeden Tag zur Shampoo-Flasche griff.
Eine schöne Erinnerung habe ich an die Stunde, als er mir den Unterschied zwischen Dur und Moll erklärte und dabei ins Philosophische abglitt. Er führte einige Beispiele für den Dualismus in der Welt an (warm und kalt, hoch und tief, u.s.w.) und krönte seine Ausführungen mit dem Satz: „Es gibt Männer, und es gibt Frauen.“ Ich war 14, und das war mir vor Kurzem auch verstärkt aufgefallen. Aber zu ihm schien das in keinster Weise zu passen. Umso erstaunter war ich, als ich herausfand, dass er eine Freundin hatte. Die war sehr nett, wohnte ein paar Zimmer weiter und studierte natürlich auch Musik.
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