„ Was darf ich nicht?“
„ Du darfst die Ratte nicht töten.“
Der Stoß war so fest, dass Bassam mit dem Hinterkopf gegen die harte Wand aufschlug. Wimmernd hielt er sich den Kopf, während er gekrümmt auf dem Boden lag.
„ Du hast das schmutzige Ding also hier reingeschleppt. Das passt zu dir. Bist selbst so ein dreckiges Ding.“
Sofort versuchte ich meinen Baba davon abzuhalten, weiter auf Bassam einzuprügeln.
„ Er war es nicht. Die Ratte ist von selbst ins Haus gekommen.“ Flehend zog ich meinen Baba zurück, der sich wieder besinnungslos auf den Stuhl fallen ließ. Dort vergrub er das Gesicht in seine Handflächen. So betrübt hatte ich ihn noch nie erlebt.
***
„Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann“, sagte Yassir. „Je mehr ich von dir erfahre, desto mehr verfluche ich dich. Sag mir doch einfach, wo mein Sohn ist, statt mich mit deinen Worten zu quälen.“ Yassir war, während Husseins Erzählung, zu Boden gesunken und wusste nicht mehr weiter.
„Wir hatten eine Abmachung, die ich gerade einhalte.“ Djamals Stimme klang wie immer klar und fest. „Sie hingegen wollen Ihren Teil nicht erfüllen.“
„Doch das tue ich, aber es fällt mir schwer. Versteh doch. Ich kann mir das nicht länger anhören und weiß immer noch nicht, was der Sinn des Ganzen sein soll.“
„Das werden Sie früh genug erfahren. Ich kann Sie zwar nicht sehen, aber ich spüre, dass Sie ein guter Mensch sind, genauso wie Bassam.“
„Wenn mein Junge ein so guter Mensch war, warum habt ihr ihm das alles angetan!?“
„Deswegen bewundere ich Sie und Ihren Sohn“, meinte Djamal. „Erst durch ihn konnte ich Recht von Unrecht unterscheiden. Vorher war mir das unmöglich, da ich immer dachte, dass ich und meine Eltern rechtmäßig gehandelt haben. Ich sehe nun ein, dass ich für meine Taten bestraft werden muss, sonst würde ich nicht hier in diesem Verlies sitzen. Jeder Mensch muss seine Strafe akzeptieren, anderenfalls verkommt man zu einem Feigling.“
„Bitte, ich kann es nicht mehr.“ Der Verzweiflung nahe lag Yassir gekrümmt auf dem Boden, wo er sein Gesicht auf den harten Grund legte. Das Gestein, das die Hitze des Tages konserviert hatte, verbrannte seine Haut, aber der Schmerz um den Verlust von Bassam überwog. Sein Körper fühlte sich erschöpft an und sein Herz war leer.
Eine Zeit lang sagte Djamal nichts. Es wehte ein kräftiger Wind durch die steinige Landschaft, der die Einsamkeit an diesem Ort noch stärker untermalte. Yassir war erleichtert, als er den Dienstwagen in der Ferne erspähte. Von Djamal hörte er nichts mehr, als hätte er sich die Stimme aus der Tiefe nur eingebildet.
Fast gleichzeitig öffneten Mehran und Omid die Seitentüren. Ihre adretten Uniformen waren durchtränkt mit Körpersäften. An den schwarzen Ledergürteln baumelten die Schlagstöcke. Allzeit bereit, Kriminellen die Härte des Gesetzes zu spüren zu geben.
Omid begleitete Yassir zum Wagen, während Mehran auf das Gitter zulief.
„Hussein!“, brüllte der kleinwüchsige Polizist hinunter. „Ich soll dir von Iraj bestellen, dass du den guten Mann nicht verarschen sollst. Und er will wissen, wie oft wir ihn noch hierhin fahren müssen. Ehrlich gesagt, hab ich die Schnauze voll, nur deinetwegen jeden Tag in diese gottverlassene Einöde zu fahren. Ich hab besseres zu tun, hörst du!“ Die letzten Worte sagte Mehran mit einem verächtlichen Lachen. Er spuckte auf das Gitter. Der Speichelfaden zog sich in die Länge, bevor er von den Stäben in die Tiefe tropfte.
„Es ist bald vollbracht“, hörte Mehran von unten.
***
„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte Polizeichef Iraj, während er steif in seinem Ledersessel saß.
Yassir schüttelte den Kopf.
„Aghaye Navid, darf ich Sie fragen, was für einen Eindruck Sie in den letzen Tagen sammeln konnten?“
„Was meinen Sie damit?“ Misstrauisch blickte Yassir in das fleischige Gesicht des Polizeichefs.
„Verzeihen Sie mir meine unklare Formulierung, eine furchtbare Angewohnheit von mir. Was denken Sie, ist Djamal Hussein für ein Mensch? Mit welchen Charakterzügen hat Allah ihn gesegnet oder verflucht?“
„Warum wollen Sie das so genau wissen? Es spielt doch keine Rolle, was für einen Charakter er hat. Er hat das Gesetz gebrochen und gehört ins Gefängnis. Was er genau getan hat, haben Sie mir außerdem immer noch nicht mitgeteilt.“
„Wie ich Ihnen schon gesagt habe, bin ich ein Mensch, der über alles und jeden Bescheid wissen muss. Informationen sind heutzutage lebenswichtig, Aghaye Navid. Vertrauen Sie mir, ich frage Sie nur, um sie zu schützen.“
„Wieso sitzt Djamal Hussein im Gefängnis?“ Yassir klopfte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte, die so sauber gewischt war, dass sich kein einziges Staubkorn auf ihr befand.
Seufzend stand Iraj auf und ging zum Fenster. Eine Weile blickte er hinaus, ohne etwas zu sagen.
„Mord“, fiel das entscheidende Wort plötzlich aus seinem Mund.
„Mord!“, wiederholte Yassir entsetzt.
„Ja, er hat einen Menschen getötet. Oder glauben Sie etwa, dass wir ihn in eine so grausame Gefängniszelle stecken nur weil er einen Apfel gestohlen hat.“
„Nein, natürlich nicht, aber ich dachte nicht gleich an Mord. Hussein kam mir nicht gerade wie ein gewalttätiger Mensch vor. Immerhin hat er sogar Medizin an der Universität von Teheran studiert.“
„Das ist irrelevant.“ Der Polizeichef setzte sich wieder hin und massierte sich den Nacken.
„Kann ich ihn wieder mitnehmen?“
Mehran stand in der Tür.
„Ja, nehmen Sie ihn wieder mit“, antwortete Iraj. Der Polizeichef wirkte schlagartig resigniert. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Yassir scheute sich allerdings nachzufragen, sodass er einfach aufstand und Mehran folgte.
***
Ihre Nasenflügel bewegten sich leicht, bei jedem Atemzug. Yassir beobachtete sie gern, wenn sie bereits schlief. In solchen Momenten strahlte sie eine Friedfertigkeit aus, die ihn an schönere Zeiten erinnerte. Zeiten, in denen sie noch eine heile Familie waren. Der Kern ihrer Glückseligkeit, Bassam, war ihnen gewaltsam entrissen geworden und ihr Leben glich nun einer trostlosen Landschaft. Yassir ging wieder in die Küche, statt sich zu seiner Frau zu legen. Er konnte ohnehin nicht schlafen. Zu viele Gedanken quälten ihn. Djamals Geschichte war auch seine Geschichte, weil Bassam ein Teil von ihr war. Zurzeit fühlte er sich leer, verspürte weder Hunger, Durst noch Müdigkeit. So saß er die halbe Nacht auf dem Küchenstuhl und blickte aus dem Fenster. Die Stadt lag friedlich vor ihm, wie ein schlafendes Kind. Nur aus der Ferne konnte er das tosende Treiben im Stadtkern erahnen.
„Du bist ja da“, hörte er die zerbrechliche Stimme seiner Frau.
Sie hatte ihm immer noch nicht verziehen, dass er sie daran gehindert hatte, mit Djamal zu reden. Auch hatte er ihr Informationen verschwiegen, was sie spürte.
„Was hat er erzählt?“, fragte sie mit der Gewissheit, dass er ihr nichts sagen würde, obwohl Yassir einen kleinen Funken Hoffnung heraushören konnte, den er allerdings mit seiner Antwort ersticken würde.
„Wie er unseren Sohn kennengelernt hat, Azizam“, antwortete Yassir. „Geh wieder ins Bett. Du siehst sehr mitgenommen aus.“
Statt Worten schleuderte sie ihm ein verächtliches Schnauben entgegen, bevor sie sich wieder ins Schlafzimmer zurückzog. Yassir beschloss, auf dem Boden der Küche zu schlafen. Ohnehin würde er von Nia nur Verachtung ernten, wenn er sich in ihrer Nähe befand. Alles war wieder wie vorher. Er rollte den Teppich aus, auf dem er normalerweise betete, und legte sich nieder. Nachdenklich starrte er die rissige Zimmerdecke an. Die Dunkelheit, die ihn wie eine Hülle der Ungewissheit umschloss, ließ ihn an die Finsternis in Husseins Gefängniszelle denken. Erdrückende Schwärze, die einem den Atem rauben konnte. Schließlich fragte er sich, wie ein Mensch sich so etwas freiwillig antun konnte. Wie viel Willenskraft war dafür nötig, tagelang in einem finsteren Loch zu fristen, ohne Licht? Und Nachts in unerträglicher Kälte und Einsamkeit seine Schuld abzusitzen, während jenseits der Einöde das Leben weiter floss? Welchen unsäglichen Mord hatte Djamal Hussein begangen, dass er sich selbst dieser Tortur aussetzte? Fragen über Fragen, die drohten, Yassirs Kopf zu sprengen. Dazu kamen noch die Dunkelheit in seinem Herzen, die Hoffnung, Bassam wieder in seine Arme nehmen zu können und das Leid, das seinem Sohn wiederfahren war und das ihn genauso quälte, als wäre er selbst davon betroffen gewesen.
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