Unser Dorf war nicht besonders groß, vielmehr war es nur eine kleine Ansammlung von Lehmbauten, aber man konnte hier alles Lebenswichtige finden. Vor manchen der zerfallenen Türen sah man eine Ziege oder ein Schaf, das einzige Anzeichen von Zivilisation. Ich sollte für meine Mutter etwas Brot, Knoblauchzehen und ein Dutzend Eier besorgen, da sie für Siamak Koukou-e-Sabzi, sein Lieblingsgericht, zur Belohnung für die harte Arbeit machen wollte. Der Brothändler, Zhaabiz, ein sehr alter Mann mit freundlichem Gemüt lächelte mir zu. Dabei kam es mir vor, als wenn er noch mehr Falten im Gesicht als gewöhnlich hatte.
„ Wie geht es deinem Baba?“, fragte er mich. „Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
„ Ganz gut, Zhaabiz“, antwortete ich, während ich den Korb, den mir Elham mitgegeben hatte, mit Brot füllte. „Er arbeitet viel.“
„ Dann grüß ihn mal von mir“, meinte der Händler.
„ Haben Sie auch noch altes Brot?“
„ Ja, aber es ist steinhart. Willst du es wirklich haben?“
Ich nickte.
„ Daryaa!“, rief er mit heiserer Stimme ins Haus.
Seine Frau, die viel jünger aussah, wusste sofort bescheid und kam mit einem Stoffbeutel, in dem sich alte Brotstreifen befanden, aus dem Haus direkt hinter dem Verkaufsstand. Als sie die Tür öffnete, konnte ich einen Blick in die Backstube erhaschen. Im Tandoor glühte die Kohle hellrot, über der frische Teigfladen gerade aufbuken, wie die Sonne stiegen sie hoch.
„ Hier, mein kleiner Sultan.“ Sie übergab mir den Beutel, nachdem sie sich das Weizenmehl von ihrem schwarzen Kopftuch geklopft hatte. Kleiner Sultan so nannte sie mich immer, wenn ich bei dem alten Ehepaar einkaufte.
Ich hatte mich schon einige Meter von dem Stand entfernt, als ich wieder die heisere Stimme Zhaabiz´s vernahm.
„ Djamal, was ich dich schon immer fragen wollte: Wofür braucht ihr eigentlich das ganze alte Brot? Das kann doch kein Mensch mehr essen.“
Mein Herz klopfte bei dieser Frage, weil ich ein schlechter Lügner war. Sichtlich fiel es mir schwer, Zhaabiz eine plausible und glaubhafte Antwort zu geben. Langsam drehte ich mich um. Ich erblickte das freundliche Gesicht des alten Mannes, dem ich nicht in die Augen sehen konnte. Zum Glück war Daryaa schon wieder ins Haus gegangen, um ihrer täglichen Arbeit nachzugehen. So musste ich nur den alten Mann anlügen.
„ Ich füttere damit die Hühner des Nachbarn.“ Meine Stimme zitterte heftig. Zhaabiz´s sonst so vertrauenswürdigen Augen verformten sich zu schmalen Schlitzen. Er schien mir nicht zu glauben. Innerlich ärgerte ich mich, da ich mich verdächtig und den Händler mit meiner Antwort misstrauisch gemacht hatte.
„ Wieso holst du die Eier dann nicht von deinem Nachbarn?“, fragte Zhaabiz, auf die Pappschachtel deutend, die sich in meiner Hand befand.
„ Seine Hühner legen zu wenig. Er braucht sie selbst.“
Ich hoffte mit dieser Erklärung, die Neugier des Mannes besänftigt zu haben. Schnell lief ich davon.
Mein Baba war noch nicht zu Hause, als ich wieder zurückkam. Nur widerwillig berichtete ich meiner Mutter von dem Gespräch mit dem Brothändler. Da sie täglich dort ihre Einkäufe tätigte, war es besser ihr davon zu erzählen, falls auch er sie mal ausfragen würde. Schließlich dachte ich, dass sich unsere Geschichten gleichen mussten. Niemand im Dorf wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, dass wir ein Kind entführt und auch noch jahrelang misshandelt haben. Wir, die Husseins, waren sogar sehr willkommen, auch wenn ich und mein Baba nur selten ins Dorf kamen. Es war meiner Mutter zu verdanken, dass wir trotz unserer seltenen Besuche ein gewisses Ansehen genossen. Wäre die ganze Sache aufgeflogen, hätte man meine Eltern ins Gefängnis gesperrt und ich wäre als ein Waisenkind aufgewachsen. Dieser Gedanke machte mir die größte Angst, schon allein deswegen weil ich tagtäglich mitbekam, wie es Bassam erging. So versuchten wir gemeinsam als Familie, alles zu vertuschen. Meine Eltern luden nie Besuch ein und unsere Verwandtschaft, mit der wir uns ohnehin verstritten hatten, wohnte glücklicherweise in Mashhad, im Nordosten des Landes. Mein Baba verriet den anderen Feldarbeitern nicht, wo wir wohnten. Niemand wusste daher, dass am äußersten Rand des Dorfes überhaupt noch eine Lehmhütte stand.
„ Mach dir keine Gedanken, sonst platzt noch dein hübscher Kopf“, scherzte meine Mutter. „Er hat es dir bestimmt geglaubt.“
Trotzdem beruhigten mich ihre Worte keineswegs. Zumal ich immer noch das argwöhnische Gesicht Zhaabiz´s im Kopf hatte. Von draußen hörte ich ein seltsames Geräusch. Es hörte sich wie ein Rasseln an, als wenn jemand zwei metallische Gegenstände aneinander reiben würde. In der Tür stand plötzlich Siamak. In seiner Hand hielt er eine längliche, schwarze Kette. Er sagte nichts und blickte nur auf Bassam, der sich ängstlich in seiner Ecke einkugelte. Meine Mutter schwieg ebenfalls. Da wusste ich sofort, dass sie mit meinem Baba gestern Nacht etwas geplant hatte. Darüber wurde also getuschelt. Bassam versuchte zu flüchten, aber mein Baba ergriff seine Schulter, die er so fest drückte, dass er niedersank und anfing zu schreien.
„ Du sollst stillhalten!“, brüllte er den Jungen an.
Gewaltsam band er die Kette um Bassams linken Fußknöchel, der sofort bläulich anlief. Das andere Ende befestigte er am Gussofen und versiegelte es mit einem Schloss. Den Schlüssel steckte er in die Hosentasche und setzte sich zu uns an den Tisch. Ich war einfach nur sprachlos.
„ Bitte, Siamak, ich werde nie wieder weglaufen“, flehte Bassam, während er an der Kette zerrte. Die Haut an seinem Knöchel war bereits nach kurzer Zeit wund gerieben.
„ Jetzt nicht mehr“, sagte mein Baba trocken, ohne Bassam dabei in die Augen blicken.
Mir tat er so leid, dass ich zu ihm gehen wollte.
„ Bleib sitzen!“, befahl mein Baba und drückte mich zurück auf den Stuhl.
Elham begann, das Abendessen vorzubereiten. Die Unbekümmertheit, mit der sie mit dieser Situation umging, erstaunte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich das, was meine Eltern taten, als falsch und schämte mich deswegen. Ich machte mir selbst Vorwürfe, nicht weil ich Mitleid mit Bassam hatte, sondern vielmehr weil ich die Erziehungsmethoden meiner Eltern bezweifelte. Ich hielt mich damals auf einen Schlag für einen schlechten Sohn. Auf den Gedanken das ich mit meinem Zweifel richtig lag, kam ich nicht mal.
***
Yassir griff in den Boden und bekam zwei Steine zu fassen. Seine Hände zitterten, als er sie zu Fäusten ballte, um das Gestein zu zerdrücken. Es knirschte, aber zerfiel nicht. Angestrengt versuchte er sich das Versprechen, das er in der Moschee gegeben hatte, in Erinnerung zu rufen. Keinesfalls wollte er Djamal verurteilen, strafen oder verantwortlich dafür machen, was mit seinem Sohn geschehen war. Jetzt zitterte er am ganzen Leib und rang um Fassung.
„Wieso erzählst du mir das?“, fragte er gequält.
„Damit Sie verstehen.“ Djamal hörte sich besonnen an. Ein junger Mann, der niemals die Nerven zu verlieren schien.
„Was soll ich verstehen?!“, sagte Yassir nun etwas lauter. „Was soll ich verstehen?!“
Mit voller Wucht schmiss er die Steine durch das Gitter. Das Echo hielt nicht lange an, ein dumpfes, kurzes Geräusch.
„Es gibt Dinge auf dieser Welt, die kann man nicht auf Anhieb begreifen. Denn sie sind winzig kleine Mosaike eines Gesamtbildes. Ich habe Ihnen bisher nur ein kleines Mosaik gegeben. Erwarten Sie etwa, dass Sie jetzt schon das ganze Werk erkennen?“
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