„ Ich muss in die Schule“, sagte ich.
„ Ist gut“, meinte Bassam mit gesenktem Kopf.
„ Was hast du?“
„ Kannst du nicht heute zu Hause bleiben?“ Voller Hoffnung sah er mir ins Gesicht.
„ Das geht nicht. Wieso fragst du?“
Eine Antwort blieb er mir schuldig, stattdessen stand er auf und ging in seine Ecke, wo er sich wieder hinlegte. Als ich zur Tür hinausgehen wollte, hörte ich noch mal seine Stimme:
„ Wann kommst du wieder?“
Seufzend drehte ich mich um. Wieder dieser Blick reiner Unschuld.
„ Das weißt du doch. Immer zur gleichen Zeit.“ Eine absurde Antwort von mir, da im Haus keine Uhr hing. Ich war der einzige, der so etwas besaß. Ein Geschenk meiner Eltern. Es war eine elektronische Armbanduhr und ich dachte, sie würde mindestens eine Million Rial kosten. Wenn mein Baba pünktlich zur Arbeit musste, dann piepste sie leise.
Ich hatte den Brunnen schon fast erreicht, als Elham aufwachte.
„ Was liegst du hier faul in der Ecke!?“, schimpfte sie.
Bassam stand auf und ließ sich Arbeit geben.
***
„ Wie geht’s dem Stinktier von Teheran?“ In der Pause stand plötzlich Jamshed vor mir, hinter ihm sein übliches Gefolge aus zwei, drei Schülern. Obwohl alle den großen Jungen fürchteten, tat ich es nicht. Zu sehr hatten meine Eltern mein Selbstbewusstsein gestärkt, dass ich es nicht für nötig hielt, klein beizugeben. Stolz kann sehr gefährlich sein.
„ Lass mich in Ruhe, Jamshed“, zischte ich ohne jede Regung.
Hinter ihm munkelten einige Schüler etwas. Ob sie es vor Erstaunen oder aus Ehrfurcht taten, wusste ich nicht. Verunsichert blickte Jamshed auf seine Anhängerschaft. Er packte mich am Arm.
„ Geh nicht zu weit, Hussein. Oder benötigst du eine zweite Tracht Prügel?!“ Der säuerlich warme Atem Jamsheds schlug mir entgegen und mir wurde kurzzeitig übel.
„ Und du rede nicht so über Bassam“, antwortete ich und riss mich los.
Jamshed richtete sich wieder auf und stand mit verschränkten Armen vor mir. Seine Größe beeindruckte mich allerdings nicht.
„ Diese Missgeburt heißt also Bassam“, fluchte er laut lachend.
Ich spürte, wie die Wut in mir immer größer wurde. Meine Armmuskeln spannten sich. Das höhnische Lachen Jamsheds drang in mein Ohr, wie eine unverschämte Beleidigung.
„ Deine ganze Familie stinkt, Hussein!“, rief Jamshed.
Ruckartig, ohne lang zu überlegen, schüttete ich ihm Wasser aus meiner Flasche ins Gesicht. Meine Mitschüler standen erschrocken hinter ihm, als konnten sie nicht glauben, was ich getan hatte. Auch Jamshed war zunächst sprachlos. Das Wasser tropfte von seinem kurzen, schwarzen Haar auf die Schultern und sein nasses Gesicht glänzte in der heißen Mittagssonne. Mit trägen Bewegungen wischte er sich mit den Ärmeln über die Augen.
„ Du kleiner Bastard!“, brüllte er, während er mich am Kragen packte und auf den Boden warf. Jeden spitzen Stein spürte ich schmerzhaft an meinem Rücken, als ich mit voller Wucht unten aufschlug.
„ Steh auf!“, schrie er. „Steh auf!“
Es hatte sich schnell ein Kreis aus Schaulustigen gebildet. Alle feuerten sie Jamshed an. Keiner traute sich meinen Namen zu rufen.
Langsam richtete ich mich auf und wollte für die Ehre meiner Eltern und die Bassams kämpfen. Ich verspürte Furcht, aber auch Stolz. Einfach aufgrund der Tatsache, dass ich bereit war, die harten Schläge Jamsheds und jeden Schmerz zu ertragen, um meine Familie zu verteidigen. Jamshed holte aus und traf mich mit der Faust auf den Wangenknochen. Die Erschütterung war so stark, dass ich wieder rückwärts zu Boden fiel.
„ Wenn du schlau bist, bleibst du lieber liegen“, höhnte Jamshed. Er spuckte mir ins Gesicht.
Ich schnellte hoch und versuchte ihn mit all meinem Gewicht nach unten zu reißen.
Zu meiner Überraschung gelang es mir.
„ So redest du nie wieder über meine Familie!“, schmetterte ich keuchend die Worte in sein überraschtes Gesicht, während ich seinen Hinterkopf auf die Erde drückte.
Jamshed hustete, da er Staub schluckte. Nun hatte ich ihn im Schwitzkasten. Die Anfeuerungsrufe für Jamhsed waren schon lange verstummt. Alle standen sie erstaunt um uns. Ich glaube, dass die meisten meiner Mitschüler sehr verwundert darüber waren, wie viel Widersetzungswillen ich zeigte. Mein Griff wurde immer fester und der Schweiß tropfte mir von der Stirn auf Jamsheds haarigen Nacken.
Jemand packte mich von hinten und riss mich weg. Es war Nersy.
„ Verflucht noch mal! Was macht ihr da!?“
Der Kreis löste sich langsam und die dichte Staubwolke, die sich während unserer Rauferei gebildet hatte, legte sich. Jamshed lag immer noch auf dem Boden. Blut lief ihm aus der Nase.
„ Hussein, ich bring dich um!“, brüllte er und spuckte auch noch etwas Blut aus.
Ich war stolz auf mich. Ganz allein hatte ich diesen Riesen überwältigt und damit allen anderen gezeigt, dass sie keine Angst vor ihm zu haben brauchten. Dass ich Ärger von Nersy zu erwarten hatte, war mir egal.
„ Ihr beide kommt sofort ins Klassenzimmer!“, befahl der Lehrer.
Während uns Nersy belehrte, wie wir uns in der Schule zu verhalten hätten, blickte mir Jamshed zornig ins Gesicht. Ich hatte an diesem Tag einen Sieg über ihn errungen, und das wusste er. Daher konnte ich mir ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„ Was gibt es da zu lachen, Djamal? Findest du das komisch?“, fragte Nersy.
„ Nein“, antwortete ich und zog eine reuevolle Miene. Dann lächelte ich wieder Jamshed frech an. Ich fühlte mich wie ein Gewinner.
***
Meine Mutter lag immer noch auf der Pritsche. Ich fasste ihr an die Stirn. Sie glühte.
„ Was ist mit dir?“, fragte ich. „Madar, was ist mit dir?“
„ Djamal“, flüsterte sie kraftlos. „Ich brauche Hilfe.“
Bassam kauerte ratlos in der Ecke.
„ Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?!“, schimpfte ich. „Du hättest mich oder Siamak holen müssen.“
„ Ich darf das Haus doch nicht verlassen“, verteidigte sich Bassam verängstigt. Einen solch harten Umgangston war er von mir nicht gewohnt.
„ Du bist manchmal so dumm“, sagte ich ohne nachzudenken.
Bassam hatte beide Hände hinter dem Rücken versteckt.
„ Was hast du da?“
„ Nichts.“
Er presste seinen Körper enger an die schmutzige Wand, als ich mich ihm näherte.
„ Du versteckst doch da was.“
Zögerlich zog Bassam die Hände hinter seinem Rücken hervor.
„ Ein Ratte!“, rief ich.
„ Bitte tu ihm nichts. Er ist mein Freund.“ Bassam bedeckte das Tier mit einer Handfläche, um es zu schützen, während die Ratte kaum genug Platz auf der anderen fand. Der fleischige Schwanz bewegte sich, wie ein Wurm. Das graue Fell glänzte ölig im Licht, als hätte man das Tier eingefettet. Von Nersy wusste ich, dass Ratten schmutzige Tiere waren, die Krankheiten übertragen konnten. Plötzlich war ich unheimlich wütend auf Bassam.
„ Raus hier!“, brüllte ich, wie mein Baba.
Sofort rannte Bassam aus dem Haus. Diesmal befolgte er meinen Befehl aus Furcht.
„ Das Tier hat Elham krank gemacht!“, rief ich noch hinterher.
„ Aber er ist mein Freund“, sagte Bassam, während er sanft über das Fell strich.
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