„Na, wie geht’s denn so?“
„Viel Arbeit!“ erwiderte diese und fuhr fort: „Wissen Sie, dass sich hinter dem letzten Fall eine tiefe menschliche Tragik verbirgt?“
„Ich glaube, dass Vaterschaftsprozesse oft Tragödien zum Hintergrund haben: Wenn ich mir die vielen Mädel so vorstelle, die sich oft dumm und leichtgläubig auf etwas einlassen, was sie allein kaum durchstehen können.“
„Um auf den letzten Fall zu kommen: Da habe ich eine tolle Geschichte gehört – unter dem Siegel der Verschwiegenheit – versteht sich. Aber Ihnen kann ich’s ja erzählen, denn Sie dürfen ja auch keine Dienstgeheimnisse ausplaudern. Sie sollen doch wissen, um was es in Ihrem Prozess geht. Wenn die Gerüchte zutreffen, wissen die beiden Eheleute genau, wer der Ehebrecher ist und wer also auch als Vater in Betracht kommt. Sie schämen sich nur, das zuzugeben.“
„Sie machen mich ja richtig gespannt. Normalerweise bin ich ja froh, wenn mir der Hintergrund meiner Prozesse erspart bleibt, denn ich bin schon mit dem Vordergrund voll ausgelastet. Aber ich bin überzeugt, dass es etwas anderes ist, wenn Sie es mir erzählen wollen.“
„Also, die Ehefrau des letzten Falles stammt aus den Philippinen. Ihr Mann hat sie auf einer Urlaubsreise kennen gelernt und nach Deutschland mitgebracht. Es hat damals eine große Hochzeit gegeben, über die sogar die Zeitungen berichtet haben, denn der Bräutigam war der Sohn des Bürgermeisters von Rockszell. Sie haben ja schon sicher von dem Mann gehört: Er ist der größte Hurenbock, der hier frei herum läuft...“
„Solche Ausdrücke bin ich ja von Ihnen gar nicht gewohnt, Frau Wahlmann“, meinte Dr. Prell lachend.
„In dem Fall treffen Sie aber genau den Kern der Sache, wie noch sehen werden: Auf der Hochzeit waren alle Beteiligten ziemlich betrunken. Irgendwann wurde die Braut entsprechend dem alten Brauch entführt – vom Vater des Bräutigams und einigen Burschen. Der Vater hat die Braut in einem Zimmer des Hotels, in dem man feierte, versteckt. Dort hat er ihr erzählt, dass nach bayrischer Sitte die erste Nacht dem Vater des Bräutigams gehört. ‚Ius primae noctis‘ hat er das genannt, und die dumme Gans von Frau hat das geglaubt und mitgemacht. Ja, und nun weiß man nicht, von wem das Kind ist. Vater und Sohn sind zerstritten und das junge Paar auch. Eine einzige Katastrophe!“
Bevor sich Dr. Prell verabschiedete, konnte er sich diese Bemerkung nicht verkneifen:
„Wenn man hört, was in Bayern so alles unter dem Begriff ‚Brauchtum‘ verstanden wird, muss man direkt Gott danken, als Preuße auf die Welt gekommen zu sein.“
Nachdem Dr. Prell das Pensionsalter erreicht hatte, hatte er keine Lust, sich zur Ruhe zu setzen. Da er sich wegen der gesetzlichen Bestimmungen nicht als Rechtsanwalt niederlassen konnte, arbeitete er als Mediator. Er half also scheidungswilligen Paaren, ihre Angelegenheiten so billig wie möglich zu regeln. Wenn nämlich erst die Anwälte solche Sachen ihre Finger bekommen, wird es teuer: Die Aufteilung des ehelichen Vermögens ist für sie insbesondere dann eine ergiebige Geldquelle, wenn es um ein Haus oder um andere größere Werte geht. Da kann ein Anwalt unter Umständen mit einer einzigen Scheidung mehr verdienen als ein normaler Arbeitnehmer in einem ganzen Jahr.
Kaum hatte Dr. Prell mit seiner neuen Tätigkeit begonnen, tat er etwas, was nur wenigen einfällt. Er dachte über den Sinn seines Handelns nach. Und er fragte sich, was mit diesen Paaren passiert sein musste, die erst total verliebt die Ehe geschlossen hatten und sich dann spinnefeind gegenüber standen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, sozusagen das Rad des Lebens zurückzudrehen, um wieder weiter vorne anfangen zu können.
Da er psychologische Kenntnisse hatte, entwickelte er eine Methode, die als Prell’sche Retrospektiv-Visualisierung allgemeine wissenschaftliche Anerkennung fand. Wer sich für solche Probleme interessiert, kann sich in der Literatur darüber informieren. Hier sei nur kurz auf diese Thesen eingegangen. Dr. Prell hatte ein schlichtes Phänomen beobachtet: In der Wirtschaft halten die verantwortlichen Personen an Fehlentscheidungen fest, auch wenn alles dadurch nur noch schlimmer wird. Man nennt dies heute „Escalation of Commitment“. Dr. Prell stellte sich nun die Frage, warum es bei Eheleuten häufig genau umgekehrt ist: Sie wollen an einer Entscheidung, nämlich der Heirat, nicht mehr festhalten, obwohl sie ursprünglich völlig richtig war. Und so erfand Dr. Prell ein Programm, durch welches die zerstrittenen Eheleute gemeinsam den Schutt wegräumten, der ihre Liebe erstickt hatte.
Eines Tages kam ein junges Paar in das Büro von Dr. Prell, das ihm zutiefst unsympathisch war, genauer gesagt war es die Frau, die ihm geradezu als Antityp dessen erschien, was ihm normalerweise als weiblich erschien. Nicht, dass sie übel ausgesehen hätte – vom Haarschnitt abgesehen, der eher einer Soldatin angestanden hätte. Auch sonst schien sie die Mentalität einer Kämpferin zu haben. Dr. Prell schaute sie durchdringend an und murmelte etwas von völliger Überlastung: Er wisse nicht, wie er ihren Fall noch in seinem Terminkalender unterbringen könne.
„Ach bitte, nehmen Sie uns doch dran“, bat der junge Mann. „Wir haben so große Hoffnungen in Sie gesetzt.“
„Du meinst: Du hast große Hoffnungen...“, verbesserte sie ihn.
Dr. Prells Ehrgeiz war geweckt. Er dachte an „Der Widerspenstigen Zähmung“ von Shakespeare: Wie war noch gleich diese Geschichte, in der eine „Kratzbürste“ in ein liebendes Wesen verwandelt wurde? Ihm wollte es nicht recht einfallen. Also musste er sich etwas anderes ausdenken. Das kostete Zeit, und so sagte er:
„Es könnte sein, dass im nächsten Monat ein Platz für Sie frei wird. Lassen Sie Ihre Telefon-Nummer hier, und ich rufe Sie dann zurück.“
Die beiden gaben ihm einen Zettel mit sechs Nummern, denn jeder hatte seinen privaten und beruflichen Anschluss sowie ein Handy.
Getrennt leben sie also, dachte Dr. Prell. Ob sie sich getrennt hatten oder niemals zusammen gezogen waren, wie es einem neuen Trend entsprach? Immer mehr Menschen waren ja nicht mehr bereit, die Freiheiten ihres Single-Daseins wegen einer Partnerschaft oder Ehe aufzugeben.
Eine Woche später bestellte Dr. Prell den jungen Mann allein in sein Büro. Er weihte ihn in seinen Plan ein, bei dem er selbst schon ein schlechtes Gewissen gehabt hatte. Auch der junge Mann hatte zuerst Bedenken, willigte dann aber doch ein:
„Ich kann ohne diese Frau nicht leben. Ich muss sie halten – egal wie.“
Dr. Prell verfasste einen Brief und schickte ihn an einen Jugendfreund, der nach Argentinien ausgewandert war. Er fügte ein kleines Begleitschreiben bei, in dem er am Ende schrieb:
„Wenn Du ein gutes Werk tun und eine Ehe retten willst, wirf doch bitte den anliegenden Brief ein. Bitte beklebe ihn mit möglichst vielen exotischen Briefmarken.“
Drei Wochen später erhielt unser junger Mann Post aus Argentinien. Wie ihm von Dr. Prell angeraten worden war, ließ er den Brief mit Couvert ostentativ auf seinem Wohnzimmertisch liegen. Als seine Frau ihn besuchte, um über die gemeinsamen Finanzen zu reden, fragte sie gleich neugierig, was es mit dem Brief auf sich habe.
„Ach, nicht der Rede wert“, erwiderte er und legte ihn in die Tischschublade. Er klebte unauffällig ein kleines Stück Tesafilm so hin, dass er sehen konnte, ob das Fach geöffnet worden war. Als sie sich kurz „zum Hände waschen“ aus dem Zimmer entfernte, löste er über sein Handy das Läuten seines eigenen Telefons aus. Und als seine Frau ins Zimmer zurück kam, täuschte er ein Ferngespräch vor, indem er sagte:
„Selbstverständlich, ich komme gleich!“
Seiner Frau erklärte er, eine liebenswerte alte Dame aus dem obersten Stockwerk habe ihn gebeten, eine Fernsehsendung in ihren Videorekorder einzuprogrammieren:
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