„Die Prells stehen unter dem besonderen Schutz Gottes!“ Womit sich seine Familie diese besondere Auszeichnung verdient haben sollte, war Dr. Prell inzwischen entfallen, aber er konnte sich daran erinnern, dass ihm sein Vater eine Reihe von Beispielen aufgeführt hatte, aus denen er diesen besonderen Schutz Gottes hergeleitet hatte. Eines davon war so skurril, dass es ihm noch in Erinnerung war:
Ein Lehrer hatte seinen Vater mit den Worten beschimpft: „Nehmen Sie eine Titelgestalt von Schiller und setzen Sie Ihren Namen ohne das ‚r‘ dahinter: Dann wissen Sie, was Sie sind!“ (Ein bisschen kompliziert, aber wir befinden uns ja auch auf dem Gymnasium. Haben Sie, verehrter Leser, erkannt, wovon die Rede war? Der Tölpel (Tell-Pell) war gemeint!) Kaum waren diese bösen Worte dem Munde des Lehrers entfahren, brach er zusammen und starb unter fürchterlichen Qualen.
Aber Dr. Prell erinnerte sich nicht nur an dieses merkwürdige Beispiel, sondern auch daran, dass sein Vater nach dem letzten Krieg von früheren Angehörigen seiner Kompanie besucht worden war, wobei alle ungefähr das Gleiche berichtet hatten: Erst hätten sie insgeheim gelacht, als sie von seinem Vater gehört hätten, sie bräuchten an seiner Seite keine Angst zu haben, weil er unter dem besonderen Schutz Gottes stehe. Dann hätten sie aber immer wieder durch die merkwürdigsten Wunder die schlimmsten Situationen überlebt. So waren sie gekommen, um sich bei ihm zu bedanken.
Dr. Prell kehrte zum Ausgangspunkt seiner Gedanken zurück: Sollte er sich nun eine Waffe kaufen oder nicht? Inzwischen wandte er sich seinem Akteneinlaufsfach zu. Das war jeden Tag der spannendste Augenblick: Dr. Prell konnte Pech haben, dass der Aktenstapel die Höhe von einem Meter überschritt. Einmal hatte er sogar sein ganzes Zimmer voll von Akten vorgefunden und geglaubt, er habe sich in der Tür geirrt. Tatsächlich aber hatte man bei ihm Straftaten aus einem umfangreichen Konkursstrafverfahren angeklagt, mit denen er sich dann ein Vierteljahr lang befassen musste.
Heute aber staunte Dr. Prell nicht schlecht, als in seinem Fach nur ein Brief auf ihn wartete. Irgendwie wollte der Brief schon auf den ersten Blick überhaupt nicht zum billigen Plastikfurnier des Akteneinlaufregals passen. Das Couvert war aus Büttenpapier und doppelt so groß wie normal. Es trug ein großes Wappen und exotische Briefmarken. Adressiert war es an „Seine Exzellenz, Herrn hochwohlgeborenen Richter Dr. Prell“. Die Justizeinlaufstelle hatte vor diesem Brief offenbar einen solchen Respekt, dass sie ihn nicht wie sonst üblich geöffnet hatte. Ein Wachtmeister hatte nur ein Zettelchen mit dem Vermerk angeklammert:
„Bitte Briefmarken an mich!“
Dr. Prell öffnete den Umschlag vorsichtig, um die Marken nicht zu beschädigen, und entnahm den Brief. Die erste Seite bestand aus einem goldenen Pfau mit arabischen Schriftzeichen. Genauso waren wenige Zeilen auf der zweiten Seite geschrieben.
Dr. Prell ging mit dem Brief zu einer Angestellten, die aus Persien stammte und einen Deutschen geheiratet hatte. Er ließ sich von ihr den Brief übersetzen und war mehr als überrascht:
Auf der ersten, eng beschriebenen Seite stand:
„Der Schah von Persien, der größte Herrscher unter der Sonne, das Stammesoberhaupt aller... usw., usw.“ Hier waren alle seine Titel aufgeführt. Die eigentliche Mitteilung des Schahs bestand nur aus einem Satz auf der zweiten Seite und dieser lautete: „...beehrt sich, hochwohlgeborenen Richter Dr. Prell zu grüßen und ihm mitzuteilen, dass der dort verurteilte Delinquent sofort nach seinem Eintreffen noch auf dem Flugplatz in Teheran erschossen wurde.“
Dr. Prell, der nun sein Tagespensum erledigt hatte, gönnte sich einen herrlichen freien Tag. Und er dachte daran, was sein inzwischen verstorbener Vater wohl dazu gesagt hätte:
„Da siehst du wieder mal: Das ist der besondere Schutz Gottes.“
Richter Dr. Prell schloss die Tür zu seinem Sitzungssaal des Amtsgerichts Dornberg auf und warf nebenbei einen Blick auf seinen „Speisezettel“, wie er scherzhaft seine Aushangtafel neben der Eingangstür zu nennen pflegte, auf der genau aufgelistet war, wann welches Verfahren zum Aufruf kommen würde. „Nicht öffentlich!“ stand groß darüber in roter, von hinten beleuchteter Schrift, denn von 8.00 bis 9.00 Uhr hatte er lauter Vaterschaftsprozesse angesetzt. Er ließ immer etliche zusammen kommen, damit die Vertreterin des Jugendamts als Amtsvormund der nichtehelichen Kinder nicht wegen jedes einzelnen Verfahrens bei Gericht erscheinen musste. Heute hatte er sich besonders viel vorgenommen:
Es begann ganz schlicht mit einem Vater, der brav 16 Jahre lang für seine nichteheliche Tochter Unterhalt bezahlt hatte und sich nun auf einmal einfallen ließ, die von ihm anerkannte Vaterschaft anzufechten. Er berichtete, es habe sein Gewissen belastet, dass er dieses Kind in die Welt gesetzt habe, ohne sich darum kümmern zu können, denn er sei ja schon damals verheiratet gewesen und habe für seine Familie sorgen müssen. Er habe es nicht einmal fertig gebracht, seine nichteheliche Tochter auch nur ein einziges Mal anzuschauen.
Als er gerade mitten in seinem reuigen Bekenntnis war, ging die Tür des Sitzungssaals auf und eine bildhübsche junge Dame schaute herein.
„Dies ist eine nicht öffentliche Sitzung, wie draußen angeschlagen ist!“ bemerkte Dr. Prell.
„Darf ich nicht vielleicht doch rein? Ich bin nämlich das Streitobjekt.“
Dr. Prell musterte das junge Mädchen und wandte sich an den Vater (der es vielleicht doch nicht war):
„Schauen Sie sich das Mädel an! Jeder andere wäre froh, so eine Tochter zu haben. Und da wollen Sie die Vaterschaft bestreiten?“
Das „Streitobjekt“ errötete wegen dieser Bemerkung, was ihr recht gut stand, wie Dr. Prell fand.
Der zweifelnde Vater sagte:
„Ich möchte doch gern, dass ein Gutachten erholt wird. Das würde mein Gewissen unheimlich entlasten.“
Während Dr. Prell einen entsprechenden Beschluss erließ, flüsterten Vater und Tochter miteinander. Dann verließen sie gemeinsam den Sitzungssaal – fast wie ein Liebespaar, denn die Tochter hatte sich spontan bei ihrem neu erworbenen Vater eingehängt.
„Das ist die Stimme des Blutes!“ bemerkte Dr. Prell, der diesem eigenartigen Paar nachschaute.
Dann rief er den nächsten Fall auf: Ein schüchternes junges Mädchen trat vor, im Amtsdeutsch „Kindsmutter“ genannt.
„Da haben Sie uns anscheinend bei Ihrer letzten Vernehmung einen Bären aufgebunden“, sagte Dr. Prell, indem er die junge Frau vorwurfsvoll über die Brille hinweg ansah. „Sie haben behauptet, Sie hätten in der gesetzlichen Empfängniszeit nur mit Herrn Humberger verkehrt. Nun steht aber nach dem Gutachten fest, dass er nicht der Vater sein kann. Sie haben Glück gehabt, dass ich Sie nicht vereidigt habe, sonst wäre das ein Meineid geworden.“
„Ich habe auch schon darüber nachgedacht, wie es das gibt, Herr Richter. Meine Aussage damals war schon richtig, ich hatte wirklich in der Verhängniszeit mit keinem anderen Mann einen richtigen Verkehr.“
„Und mit wem hatten Sie dann einen unrichtigen?“ wollte Dr. Prell wissen und musste wegen des treffenden Ausdrucks „Verhängniszeit“ (statt Empfängniszeit) lächeln.
„Also da war noch der Alfred Wanner aus Martinsried. Mit dem hab’ ich im Fasching ziemlich intim g’schmust und auf einmal war ich ganz nass am Oberschenkel – ganz oben, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Dr. Prell machte ein Gesicht, also ob er von einem plötzlichen Zahnschmerz geplagt wäre, denn er war Junggeselle aus Überzeugung und hasste intime Details dieser Art. Dann sagte er:
„Ja, ja, ich verstehe schon, was los ist. Seit ich hier sitze, weiß ich, dass es Frauen gibt, die eine Männerhose nur anzuschauen brauchen, um schwanger zu werden. Also gut: dann beziehen wir also den Herrn Wanner auch noch mit in das Gutachten ein.“
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